Dokumentarfilm «Alphabet» Alles nur geföhnte Bubies und Barbies

Der Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer prangert unser fehlgeleitetes Bildungssystem an. Damit ergänzt «Alphabet» die Reihe globalisierungskritischer Filme aus Österreich. von Oliver Kaever

http://www.zeit.de/kultur/film/2013-10/dokumentarfilm-alphabet-erwin-wagenhofer

Frühintelligenztest eines Babys in dem Dokumentarfilm "Alphabet"

Frühintelligenztest eines Babys in dem Dokumentarfilm «Alphabet»  |  © Filmladen Filmverleih

Erwin Wagenhofer meint es ernst. Das ist bei dem österreichischen Dokumentarfilmer nichts Neues, aber sein jüngstes Thema Bildung geht er besonders grundsätzlich an und eröffnet Alphabet mit Ultraschallaufnahmen von einem Kind im Mutterleib. Darüber legt Wagenhofer eine Rede des britischen Bildungsforschers Sir Ken Robinson: «Wir haben diese außergewöhnliche Kraft, damit meine ich die Kraft der Vorstellung. Jede Ausformung menschlicher Kultur ist die Folge dieser einzigartigen Fähigkeit. Doch ich glaube, dass wir sie systematisch in unseren Kindern zerstören. Denn wir akzeptieren blind gewisse Vorstellungen über Erziehung, über Kinder, darüber, was Ausbildung bedeutet, über gesellschaftlichen Bedarf und Nutzen, über wirtschaftliche Zweckmäßigkeit.»

Sätze, die sitzen. Wie überhaupt in diesem Film so viele bemerkenswerte Zitate fallen, dass man im Kino ständig einen Notizblock zücken möchte. Für seine Betrachtung von Bildungssystemen im Zeichen der Globalisierung hat Wagenhofer neben Robinson viele weitere prominente Experten vor seine Kamera geholt. Darunter ist der deutsche Neurologe Gerald Hüther, ein vehementer Kritiker des steigenden Leistungsdrucks in den Schulen; der ehemalige Lufthansa- und Daimler-Benz-Manager Thomas Sattelberger, der Absolventen von Wirtschaftsstudiengängen als «geföhnte Bubies und Barbie-Puppen im Business-Look» kritisiert; der Pädagoge Arno Stern, der Kindern seit 30 Jahren in seinem «Malort» in Paris die Möglichkeit zur Kreativität ohne Druck gibt; und sein Sohn André, Gitarrist, Komponist und Gitarrenbaumeister, der nie eine Schule besucht hat.   

Wagenhofer lässt wie seine Protagonisten keinen Zweifel daran, dass Bildungsanstalten schlecht mit Kindern umgehen. Als krasses Beispiel dient ihm der erste Halt auf seiner Reise durch die Schulen der Welt: China. Muster-Pisa-Kandidat, immer an der Spitze der Rankings der OECD. Unschöner Nebeneffekt: Der Primus verzeichnet auch die höchste Selbstmordrate überforderter Schüler, wie der chinesische Erziehungswissenschaftler Yang Dongping anmerkt. Seit der Einführung der Marktwirtschaft sei das Bildungssystem von Konkurrenzdenken, Auswendiglernen und dem Bestehen der vielen gefürchteten Prüfungen und Schulwettbewerbe geprägt. Raum für kreatives Denken, eigene Ideen und Erholung gebe es dagegen nicht. Dongping: «Unsere Kinder gewinnen am Start – und verlieren am Ziel.»

Was China im Extrem exerziert, macht laut Wagenhofer auch in den Ländern der EU vielen Kindern die Schule zur Hölle. Der Leistungsdruck steige ständig, Schüler seien lediglich Teil einer wirtschaftlichen Verwertungskette. Ecken und Kanten, ein eigener Kopf und das Hinterfragen von Handlungsmaximen seien nicht gefragt. Stattdessen Anpassungsfähigkeit, bedingungsloses Erfüllen von Vorgaben, Konkurrenzdenken. Unser Schulsystem funktioniere immer noch wie im 19. Jahrhundert, als Menschen nicht ihr Potenzial ausschöpften, sondern an den Maschinen der immer noch zunehmenden In­dus­t­ri­a­li­sie­rung funktionieren sollten, kritisiert Gerald Hüther.

Der globale Kapitalismus – in Alphabet erhebt er wieder sein schauriges Haupt. Eine Weltwirtschaft, die allein nach den Gesetzen des Marktes funktioniert, sagt Wagenhofer, setzt Gesellschaften so enorm unter Druck, dass sie Zukunft nicht sinnvoll gestalten können.

Damit ist der Filmemacher bei einem Thema, das ihn seit seinem Kino-Debüt im Jahr 2005 umtreibt. Damals prangerte er in We feed the World die für Mensch und Umwelt katastrophalen Folgen einer Nahrungsmittelproduktion an, die allein auf Profitmaximierung ausgerichtet ist. 2008 blickte er mit Let’s make Money direkt ins finstere Herz der Finanzindustrie und zeichnete Geldströme und ungleiche Vermögensverteilung nach. Alphabet bildet nun den Abschluss seiner Trilogie über die Folgen der Globalisierung.

Das Thema beschäftigt seit Jahren viele österreichische Dokufilmer – und sorgt dafür, dass die lebendige österreichische Filmszene so viel internationale Beachtung findet: Die Regisseure aus dem fiktionalen Fach blicken vor die eigene Haustür und finden Soziopathen, Kinderschänder und Familientragödien. Die Kollegen von der Doku reisen in die Welt, um unbarmherzig Katastrophen im globalen Maßstab abzubilden. Österreich, das Weltzentrum der Feel Bad Movies

Mitte der Nullerjahre nahmen die Filmemacher vor allem die Nahrungsmittelproduktion in den Blick. Hubert Sauper dokumentierte in Darwin’s Nightmare (2004) die ökologische Katastrophe, die sich im Victoriasee vollzieht, seit dort der von der Industrie so getaufte Victoriabarsch (eigentlich: Nilbarsch) ausgesetzt wurde. Nikolaus Geyrhalter zeigte 2005 in Unser täglich Brot die Massenproduktion von Lebensmitteln und ließ dabei allein Bilder sprechen; der Film kommt völlig ohne Kommentar aus. Im gleichen Jahr feierte Wagenhofer mit We feed the World einen riesigen Publikumserfolg. Er wurde in Österreich zum erfolgreichsten Dokumentarfilm seit der statistischen Erfassung und zog im gesamten deutschsprachigen Raum über 600.000 Zuschauer in die Kinos. Daraufhin sprossen Dokus über Essen aus dem Boden wie Zuchtchampignons, von Food, Inc. bis Taste the Waste.  

Auch auf anderen Themenfeldern gingen die Österreicher immer dahin, wo es besonders weh tat. Prekäre Arbeitsverhältnisse (Michael Glawoggers Workingman’s Death und Whore’s Glory), Umweltverschmutzung (Plastic Planet von Werner Boote), Überbevölkerung (Population Boom, ebenfalls Boote) oder die Einführung der Energiesparlampe (Bulb Fiction, Christoph Mayr) – ob in fernen Gefilden oder in der Europäischen Union, überall fanden die Regisseure skandalöse Zustände. Sie werden ausgelöst – und diese Sicht eint alle Filme – durch die Liberalisierung des Welthandels und zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft. «Das Thema Energiesparlampe eignet sich hervorragend, um Methodik und Kaltblütigkeit der Großindustrie darzustellen», sagt Christoph Mayr über Bulb Fiction. Ein Prinzip, das die Österreicher perfektionierten. Die Themen sind immer andere, der Auslöser der krisenhaften Situationen immer der gleiche: die Globalisierung. Aus Österreich kommt politisch hellwacher Agitprop, der die Augen öffnet und wütend macht. Der aber angesichts seines ständigen Alarmismus durchaus auch ermüdet.

Der gute Quälgeist

Alphabet allerdings nicht, obwohl gerade dieser Film das Publikum spalten wird. Dass Wagenhofer mit dem Thema Bildung einen Nerv treffen wird, lassen die durch den Pisa-Schock ausgelösten, seit über zehn Jahren anhaltenden Debatten und die offensichtlich herrschende Ratlosigkeit erahnen. Bildungspolitiker und Eltern werden in Wagenhofers Film trotzdem nicht fündig werden, wenn sie nach Antworten suchen. Zumindest nicht, wenn sie das Thema auf die Frage eingrenzen, ob nun die Gesamtschule oder das Gymnasium die bessere Schulform ist. Viele Zuschauer werden ihm vorwerfen, das Thema unausgewogen aufzubereiten. Und tatsächlich ist Alphabet ungenauer, wolkiger und auch parteiischer als seine Vorgänger. Aber der Mann macht schließlich kein Bildungsfernsehen.

Stattdessen spürt man die Leidenschaft, mit der Wagenhofer versucht, die Globalisierung diesmal noch grundsätzlicher zu fassen. Wenn er mit Alphabet nicht in die Niederungen tagesaktueller Bildungsdiskussionen hinabsteigt, dann deshalb, weil das Thema ihm hier als Vehikel dient, um Fragen zu stellen, die in seinen vorangegangenen Filmen schon unausgesprochen im Raum standen. Fragen, die angesichts unserer so alternativlos erscheinenden Gegenwart fast unanständig wirken: Wenn der Kapitalismus, wie er ihn hier wieder beschreibt, ein System der Angst ist, das freie Entwicklung schwierig bis unmöglich macht – was könnte dann das Gegenmodell sein? Wie müssen sich Gesellschaften entwickeln, damit Kinder unbeschwert lernen und ihre Kreativität entdecken können?

«Wir müssen anders leben», sagte Wagenhofer schon über We feed the World. Diese Dringlichkeit macht sein Werk aus. Damit setzt er sich von der Katastrophen-Dramatik ab, der manche seiner Kollegen erliegen, und wird zum Quälgeist, denn verantwortlich ist für ihn nicht das System, sondern jeder einzelne. Die Forderung nach einer eigenen Haltung hat er nie drängender gestellt als in Alphabet.