Schulvergleich: Von Strebern und Chaoten
Bayerische Schüler können viel besser lesen und rechnen als Berliner Schüler. Warum ist das so? Eine Forschungsreise zu zwei Schulen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.
Von: Martin Spiewak 14.06.2013 – 11:26 UhrWas an der Münchner Isar-Schule die Ausnahme ist, gehört an der Berliner Spree-Schule* zum Alltag: Schulanfänger, die nicht bis zehn zählen können; Kinder geschiedener Eltern, denen im Ranzen irgendetwas fehlt, weil sie ständig zwischen Mutter und Vater pendeln; kleine Medien-Junkies, die am Montagmorgen wie auf Entzug in die erste Stunde kommen; Schüler, die ohne Pausenbrot zum Unterricht erscheinen.
Es ist nicht schwer, Unterschiede zwischen den beiden Schulen zu finden. Dabei hatten wir die Bildungsverwaltung in Berlin und München gebeten, uns jeweils eine «durchschnittliche Grundschule» zu nennen. Wir wollen herausfinden, warum die Schüler in einem Bundesland so viel besser lesen und rechnen können als in einem anderen. Und weil Extreme das Allgemeine besonders gut zeigen, suchen wir die Antwort an den beiden Polen der Bildungsrepublik: in Berlin und Bayern.
Am Geld liegt es nicht
«Schauen Sie hier.» In der Spree-Schule streicht Schulleiterin Petra Mende über die Fensterbank ihres Büros und hält einen schmutzig-schwarzen Finger hoch. «Der Putzdienst schafft das nur alle zwei Wochen.» Eigene Reinigungskräfte gibt es schon lange nicht mehr an ihrer Schule. Wie überall an Berliner Schulen hat Mende eine Fremdfirma mit dem Job beauftragt, die billigste am Markt. Nur ein paar Minuten hat die Kolonne zur Säuberung jedes Klassenraums. Mehr gibt Mendes Etat nicht her. Auch die Toiletten müssen deshalb manchmal einen Tag lang auf eine Reinigung warten.
Für die Schulleiterin symbolisiert das knappe Putzbudget den Wert der Bildung in Berlin: «Die Rahmenbedingungen für unsere Schulen sind schlecht.» Den Unterschied zu ihrem Pendant in München sieht man schon auf den ersten Blick. Während die Spree-Schule in einem verwinkelten Altbau untergebracht ist, arbeiten die Lehrer der Münchner Isar-Schule in einem lichten Neubau aus viel Holz und Glas. In jedem Klassenraum finden sich ein Computer, eine Leseecke samt Sofa und Regale voller Bücher und Lernhilfen. «Was die Ausstattung angeht, können wir nicht klagen», sagt Schulleiterin Martina Rudzio, die an einem modernen Schreibtisch in ihrem blitzsauberen Büro sitzt. An der Spree-Schule geht es karger zu. Hier müssen die Lehrer, wenn der Schuletat aufgebraucht ist, ihre Arbeitsmaterialien aus eigener Tasche bezahlen. So wie die Schüler für ihre Bücher bis zu 100 Euro selbst beisteuern müssen. Und Petra Mende muss ihr Büro mit dem stellvertretenden Schulleiter teilen.
Dabei gibt Berlin eigentlich sogar mehr Geld pro Grundschüler aus als Bayern: 300 Euro mehr sind es laut Haushaltsplan im Jahr. Nur müssen die Mittel auf dem Weg von der Schulbehörde zur Spree-Schule irgendwo verloren gehen. «Bei uns jedenfalls kommt das Geld nicht an», sagt Mende. Das Geld ist also nicht Schuld, dass bayerische Schulen immer weit über dem nationalen Leistungsschnitt liegen und Berliner Schulen deutlich darunter. Wer aber dann? Sind es die Lehrer, oder liegt es an den Schülern? Und hat der bayerische Erfolg vielleicht auch einen Preis – und Berlin Stärken, die keine Statistik zeigt? Schließlich kommen die Siegerschulen beim Deutschen Schulpreis – umgerechnet auf die Schülerzahl – dreimal so häufig aus Berlin wie aus Bayern.
Eigentlich sollte man meinen, dass diese Fragen längst geklärt sind. Seit dem Jahr 2000 vergleichen Forscher das Lernniveau in Deutschlands Schulen. Die Abhandlungen zu Pisa, Iglu und anderen Studien füllen ganze Regalmeter. Wir wissen über unser Schulsystem etwa, dass es ungerecht ist. Vor allem aber kennen wir die riesigen Leistungsdifferenzen zwischen den Bundesländern. So haben die Viertklässler in Bayern in der jüngsten Vergleichsuntersuchung in Mathematik 519 Punkte erzielt, die Schüler in Berlin nur 451. Das entspricht dem Lernfortschritt rund eines Schuljahres – oder dem, was Deutschland im internationalen Vergleich von der Türkei trennt. Gegen das Schulproblem sei jede verschobene Flughafeneröffnung unbedeutend, sagen Experten.
Nur eines kennen wir trotz aller Studien nicht: die Gründe für die gewaltigen Unterschiede. Warum liest der Süden der Republik besser als der Norden? Wieso sind Thüringen oder Sachsen-Anhalt auf den Ranglisten über die Jahre hinweg nach oben geklettert, während die drei Stadtstaaten im Keller verharren? «Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor», sagt der langjährige Leiter der Pisa-Studien, Manfred Prenzel.
Angesichts der öffentlichen Erregung, die die Leistungsvergleiche stets hervorrufen, muss diese Ignoranz verblüffen. Was noch verwunderlicher ist: Bislang haben die Bildungspolitiker nichts unternommen, ihre Blindheit zu kurieren. Sie reden zwar viel von Transparenz. In Wirklichkeit haben sie Angst vor der Wahrheit. Sie könnte ja lauten, dass an ihrer Politik etwas falsch ist. Deshalb hat die Kultusministerkonferenz bislang keine einzige Studie zur Ursachenerkundung auf den Weg gebracht. Sie hat sogar alle tiefer gehenden Analysen verhindert. Forscher, die mit Daten aus der Pisa-Studie arbeiten, müssen – unter Androhung einer Strafe von 10.000 Euro – versprechen, in ihrer Publikation kein Bundesland beim Namen zu nennen. Wer also Antworten auf die Frage nach den Unterschieden zwischen den Bundesländern sucht, muss sich selbst aufmachen, mit Schulleitern, Lehrern und Schülern reden und herausfinden, was typische Schulen unterscheidet.
Die Herkunft zählt – aber nicht die geografische
Emre, Simon, Thien, so heißen die Schüler an der Spree-Schule. José, Karl, Alexej heißen die Kinder an der Isar-Schule. Deutsche Großstadtschulen sind überall bunt. In München stammen sogar mehr Schüler aus Einwandererfamilien als in Berlin. Ihre Leistungen liegen zwar unter dem bayerischen Schnitt. Aber sie können fast so gut lesen und rechnen wie die Berliner Schüler aus deutschen Familien.
An der Migrantenquote kann es also nicht liegen, dass Berlin das ewige Kellerkind der Bildungsrepublik ist. Bildungsforscher bestätigen: Nicht der Geburtsort der Eltern bestimmt die Schulkarriere ihrer Kinder, sondern das Einkommen und der Bildungsstand. Und hier klafft zwischen München und Berlin ein Abgrund.
Das zeigt sich nicht nur an der Zahl der Eltern, die bei einer Klassenfahrt um Beihilfe bitten, oder an dem Prozentsatz der Kinder aus geschiedenen Familien, sondern auch an der Zahl der verhaltensauffälligen Schüler, die nicht still sitzen können, die andere schlagen, die jede Stunde ihr eigenes Programm brauchen. «So ein Schüler macht so viel Arbeit wie sieben andere», sagt eine Berliner Lehrerin. Zwar gibt es an der Spree-Schule einen Sozialpädagogen und eine Sonderpädagogin mit halber Stelle für schwere Fälle. Aber deren Stunden reichen vorn und hinten nicht aus.
Die Lehrer an der Isar-Schule kennen ebenso verhaltensauffällige Schüler, wie es auch in Bayern «Problemschulen» gibt. In München liegen sie in Hochhaussiedlungen wie Am Hasenbergl oder Neuperlach. Doch um mehr als ein Dutzend Standorte muss sich die Schulverwaltung der Stadt nicht kümmern. In Berlin dagegen – im Wedding, in Kreuzberg oder Neukölln – zählt man mehr als hundert Brennpunktschulen. Hier gibt es Klassen, in denen alle (!) Schüler aus Hartz-IV-Familien stammen. An der Spree-Schule liegt die Quote bei einem Drittel und damit im Berliner Mittel.
Es ist also die Armutsquote, die Berlins Schulergebnisse drückt. Aber muss der Abstand zu Bayern deshalb so riesig sein? Nein, meint Hans Anand Pant. Er leitet das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das die Ländervergleiche erstellt. Pant hat die Ergebnisse der letzten Erhebung «adjustiert», also die Herkunft der Schüler mit statistischen Kniffen herausgerechnet. Es geschah Überraschendes: Bayern sackte im Länderranking ab, Berlin stieg aber kaum auf, der Abstand blieb enorm. Vergleicht man zudem nur die Gruppe der Schüler aus gehobenem Elternhaus, schneidet Berlin ebenso schlecht ab. Die Schulmisere dort muss also noch andere Gründe haben.
Am Morgen hat sich Frau Mix aus der 3c an der Isar-Schule krankgemeldet. Sofort hat die Schulsekretärin die «Mobile Reserve» informiert. In München stehen 200 ausgebildete Pädagogen bereit, um bei Krankheit einzuspringen. Fast jeder bayerische Lehrer wird in seiner Dienstzeit für ein, zwei Jahre zu dieser Lehrerfeuerwehr abgeordnet. «Wenn es gut läuft, habe ich am selben Tag Ersatz», sagt Schulleiterin Rudzio. Es läuft oft gut. Deshalb verzichtet die Münchner Schulverwaltung sogar auf eine Krankheitsstatistik.
In Berlin kennt man die Zahlen genau. Jeden Tag meldet sich einer von zehn Lehrern krank; mehr als in jedem anderen Bundesland. An der Spree-Schule fehlen zwei Kollegen seit Monaten. Schulleiterin Petra Mende hat für solche Fälle zwar ein Vertretungsbudget. Es hilft ihr aber selten weiter. «Es gibt kaum qualifizierte Kollegen auf dem Markt», sagt sie. Einmal hat sie aus Not eine Journalistin eingestellt. Die Frau sei engagiert gewesen, fachlich sei der Unterricht doch «etwas schwach» ausgefallen.
Noch mehr Sorgen bereiten der Berliner Direktorin die Kollegen, die bald in den Ruhestand gehen. Denn Nachwuchs ist dünn gesät; viele junge Lehrer verlassen die Hauptstadt nach ihrer Ausbildung, gehen nach Hamburg oder Brandenburg. Dort lockt der Beamtenstatus. In Berlin bleiben sie Angestellte, ohne Jobgarantie und mit geringeren Bezügen. Dabei braucht gerade Berlin junge, gut ausgebildete Lehrer. An der Spree-Schule wie überall in der Stadt unterrichten viele Lehrer Mathematik oder Deutsch, die das Fach nie studiert haben. Ihr Wissen stammt noch aus der eigenen Schulzeit. Ein solcher «fachfremder» Unterricht benachteilige besonders schwächere Schüler, sagt der Bildungsforscher Pant. In Bayern dagegen müssen alle Grundschulpädagogen in den Kernfächern zumindest Basiskenntnisse erwerben.
Von Gehorsam und Widerstand
Lehrer können dazulernen. An der Spree-Schule besuchten viele ihrer Kollegen Fortbildungen, sagt Petra Mende. Zwingen tut sie allerdings niemanden. An der Isar-Schule dagegen besteht strikte Fortbildungspflicht. Exakt zwölf Lerntage à fünf Stunden zu sechzig Minuten muss ein bayerischer Lehrer in vier Jahren nachweisen. Und wenn es bald ein neues Curriculum für die Schulen gibt, wird das ganze Kollegium zum Büffeln abgeordnet.
In Berlin wäre das undenkbar. «Mit Anordnungen erreichen Sie hier nichts», sagt Jürgen Zöllner, ehemals Schulsenator der Hauptstadt. «Wenn Sie es trotzdem versuchen, erhöhen Sie nur die Krankenrate.» Zöllner kam als erfahrener Minister aus Rheinland-Pfalz nach Berlin. Die dortige Schulkultur mit ihrer Antihaltung gegenüber der Politik und ihrer Skepsis gegenüber Leistung traf ihn «wie ein Schock». Der Sozialdemokrat hat folgende Theorie: Jahrzehntelang sei Berlin ein Magnet für Leute gewesen, die mit dem westdeutschen Establishment (und der Bundeswehr) nichts zu tun haben wollten. Viele von ihnen hätten ihre Heimat in den Schulen gefunden. Ihre Einstellung präge viele Kollegien bis heute, sagt Zöllner: «Bei einem Schultest wollen die Bayern die Besten sein. Die Berliner wollen beweisen, dass der Test nichts taugt.»
Tatsächlich gehört das Motzen in Berliner Kollegien zum guten Ton. Die Lokalpresse trägt den Jammerton eins zu eins in die Öffentlichkeit. Auch im Direktorenzimmer dauert es kaum eine halbe Stunde, dann hat einen Petra Mende auf den Stand gebracht, was in der Berliner Schulpolitik alles falsch laufe. Ihre Kollegin aus München, ganz bayerische Beamtin, verliert kein böses Wort über die Obrigkeiten. Sie hätte auch weniger zu klagen.
Die Nebenwirkungen von Schulreformen
Montagmorgen, erste Stunde bei den «Tigern» der Spree-Schule. Die Klasse teilt sich in zwei Gruppen. Während die einen Schüler mit Würfeln den Zehnerraum erkunden, erproben die anderen die Geheimnisse der Multiplikation. Die Tiger sind eine JüL-Klasse. Beim «jahrgangsübergreifenden Lernen» bestreiten die erste und zweite Klasse den Unterricht gemeinsam. Die Jüngeren lernen von den Älteren, die Starken ziehen die Schwachen mit. Die Idee ist pädagogisch bestechend, aber schwer umzusetzen. Die Schüler müssen zu einem Minimum an Selbstständigkeit fähig sein, die Lehrer mit der Vielfalt umgehen können. Dem Einwand, dass beides in Berlin kaum gegeben sei, begegnete der Senat bei der Einführung der Reform 2005 mit dem Hinweis auf zusätzliche Lehrer und umfassende Fortbildungen.
- Die Misere
- Das Lerngefälle zwischen den Schulen verschiedener Bundesländer ist eklatant. In Mathematik etwa liegen die Leistungen von Schülern aus Bayern und Berlin ähnlich weit auseinander wie die von Schülern aus Deutschland und der Türkei. Weil die Kultusminister zwar Wettbewerb predigen, selbst aber Transparenz scheuen, gibt es bislang keine einzige Studie zu den tiefer liegenden Ursachen dieser Leistungsunterschiede.
- Die Recherche
- Unser Autor hat daher selbst Ursachenforschung betrieben. Er hat sich wochenlang durch Gesetze und Sozialerhebungen gearbeitet, mit Experten gesprochen, Stundenpläne und Ausbildungsvorschriften verglichen. Vor allem aber hat er den Alltag zweier normaler Schulen in München und Berlin erlebt. Da sie anonym bleiben möchten, heißen sie hier Isar-Schule und Spree-Schule.
Statt neuer Stellen gab es dann nur Extrastunden, die Fortbildungen besuchte wie immer nur ein Teil der Lehrer. Mittlerweile hat der Senat den Zwang zum JüL aufgehoben. Ein Drittel der Schulen wird zum alten Modell zurückkehren. So gilt JüL in Berlin als Paradebeispiel einer missratenen Schulreform: übers Knie gebrochen, finanziell nicht unterfüttert, von den Lehrern kaum mitgetragen. Berlin kann einige dieser Reformruinen vorweisen, die zwangsweise Einschulung mit fünfeinhalb Jahren etwa oder die Abschaffung der Vorschulen.
Schulreformen gleichen Operationen ohne Betäubung. Oft schwächen sie den Lehrkörper und lenken vom Kerngeschäft ab, dem Unterricht. Bevor irgendetwas besser wird, wird manches erst einmal schlechter. Und nicht selten bleibt alles beim Alten, nur Unsicherheit und Unruhe sind größer denn je. Auch Bayern erprobt das jahrgangsübergreifende Lernen, aber nur behutsam an wenigen Standorten. Großreformen bleiben den Grundschulen im Freistaat erspart. Während sich Schulleiterin Mende in Berlin «wie auf einer Dauerbaustelle» fühlt – ständig gilt es, irgendetwas abzureißen, instand zu setzen, umzubauen –, sieht Martina Rudzio ihre Aufgabe darin, die «bewährten Strukturen» zu sichern. Und Strukturen sind in bayerischen Schulen so heilig wie das Kreuz in jedem Klassenraum.
Freiheit und Ordnung
Am Morgen war Rudzio zu «Beratungsbesuchen» unterwegs. Einmal im Jahr schaut sich die Münchner Schulleiterin den Unterricht ihrer Lehrer an, bei «Schwachleistern» auch öfter. Rudzio lässt sich die Hefte und die Wochenpläne der Schüler zeigen, kontrolliert Noten und Hausaufgaben. Dass ihre – unangemeldeten – Besuche nicht beliebt sind, weiß die Schulleiterin. Aber sie sagt: «Ich bin nicht an der Schule, um Freunde zu finden, sondern um die Qualität zu garantieren.» Auch die Schulrätin aus dem Schulamt wird bei jedem Pädagogen alle vier Jahre im Unterricht vorstellig. Wenn sie sich an der Isar-Schule anmeldet, herrscht unter den Lehrern eine Stimmung wie bei Gymnasiasten vor der Abiturprüfung.
An bayerischen Schulen wird nichts dem Zufall überlassen. Zwar produziert die Schulbürokratie auch in anderen Bundesländern viele Vorschriften. Der Unterschied ist: «In Bayern werden sie strikt eingehalten», sagt Yvonne Sass, die aus Bremen nach München kam. Die Lehrerin breitet zwei Ordner und einen Stapel Klarsichtmappen auf ihrem Pult aus: den «Stoffverteilungsplan» für das Jahr, die «Wochenpläne» für die stundengenaue Unterrichtsbeschreibung der Woche, die «Vordrucke für die Schülerbeobachtung».
Letztere hat monatlich zu erfolgen. Der Wochenplan muss spätestens montags um 7.45 Uhr zur möglichen Einsicht der Schulleitung vorliegen. Ist eine Unterrichtseinheit beendet, bezeugt Sass dies mit einem Häkchen. Nur den bayerischen «Belehrungskalender» nimmt die Zugereiste nicht so ernst. Er erinnert daran, die Schüler im Januar vor Knallkörpern und im Oktober vor dem «Unwesen der Wilderei» zu warnen.
Die Spree-Pädagogen kennen solche strikten Gebote nicht – außer sie haben vor 1989 im Osten der Stadt unterrichtet. Den Lehrplan verstehen Berliner Lehrer eher als groben Rahmen. Den Schulrat kennen einige nicht einmal beim Namen. Und wenn Petra Mende in den Unterricht kommen möchte, dann bitte nur mit Voranmeldung. Die Rektorin sagt: «Das Klima im Kollegium ist mir wichtig. Ich will kein Dompteur sein.» Dass sie überhaupt ihre Kollegen behelligt, ist nicht selbstverständlich. In Berlin gibt es Lehrer, deren Klasse seit dem Referendariat niemand besucht hat.
Die Unterschiede zeigen sich auch im Unterricht. Der reine Frontalunterricht ist zwar in Berlin wie in München passé, hier wie dort arbeiten die Schüler häufig in Gruppen oder folgen ihrem eigenen Wochenplan. In München freilich gehorchen die Unterrichtsschritte einer strafferen Choreografie, und die Schüler wissen rascher, was zu tun ist. Selbst wie sie nach vorne treten – die rechte Reihe zuerst, dann die Mitte dann die linke Reihe –, scheinen die Schüler x-mal geübt zu haben. Auch der Geräuschpegel ist niedriger.
Yvonne Sass schätzt mittlerweile die bayerischen Regeln und Rituale. «Die Strukturen helfen gerade den schwachen Schülern.» Auch die Schulforschung hat im «Klassenmanagement» einen wichtigen Baustein für erfolgreiches Unterrichten identifiziert.
Für Berlins schwierige Schüler wären feste Strukturen besonders wichtig, ebenso wie die Lehrer viel stärker auf Einhaltung der Mindeststandards des Lehrplans achten müssten. Die Münchner Schullenker dagegen könnten den Lehrern ihren pädagogischen Eigensinn lassen und den Schülern mehr Selbstständigkeit erlauben. Hohe Erwartungen bringen hohe Leistungen. Das ist empirisch belegt. Doch der Blick auf Noten und Leistungsvergleiche enthüllt nicht die ganze Wahrheit über das, was Schüler an einer Schule lernen.
Im chaotischen Berliner Schulklima wächst offenbar Neues und Einzigartiges, was bei Pisa nicht getestet wird – wie etwa die Zahl der Preisträger beim Deutschen Schulpreis zeigt. Das merkt man auch im Unterricht: Zweitklässler, die einen Vortrag über Eichhörnchen halten; Schüler, die ihr Lieblingsbuch vorstellen oder ihren Stadtteil mithilfe des Internets erkunden – all das gab es bei den Besuchen an der Spree-Schule zu sehen, an der Isar-Schule nicht. In Bayern scheint man für so etwas nur selten Zeit zu haben. Hier zählt jede Minute auf dem Weg zum Grundschulabitur.
Der Preis des bayerischen Schulerfolgs
«Kindsein ist kein Kinderspiel». In München hat die Elternversammlung zum Informationsabend geladen. Die Aula ist gefüllt. Die Psychologin Anette Frankenberger hat den Vortrag schon unzählige Male gehalten. Beliebter ist nur noch das Referat «Kinder im Stress». Im Grunde geht es stets um dasselbe: den Ausnahmezustand, der in Münchner Familien ausbricht, wenn der Übergang auf die weiterführende Schule ansteht. Wer aufs Gymnasium will, muss die Grundschule mit mindestens 2,33 abschließen. Ab Ende der dritten Klasse richtet sich alle Aufmerksamkeit darauf.
An der Isar-Schule ist das die Zeit, wenn Kinder auf der Klassenfahrt nachts plötzlich wieder einnässen; wenn Schülern der Ballettunterricht oder das Fußballtraining gestrichen wird und Eltern sich freinehmen, um für die nächste Klassenarbeit zu pauken. 22 «Proben», also Klassenarbeiten, schreibt das Kultusministerium für die vierte Jahrgangsstufe vor. «Wir haben praktisch neun Monate durchgelernt», berichtet eine Mutter an der Isar-Schule.
In München falle der «Übergangswahn» besonders hysterisch aus, sagt die Psychologin Frankenberger. Hier ist die Akademikerrate höher als anderswo in Bayern und das Bestreben der Eltern größer, den eigenen Kindern die gleiche Bildungskarriere zu ebnen. Deshalb sind die Lehrer auch angehalten, ihr «Schriftwesen» in der vierten Klasse besonders zu pflegen. Ein Vater, dessen Sohn den Schnitt um 0,01 verpasst hat, könnte die Schule verklagen und behaupten, es läge daran, dass die Lehrerin zu wenig geübt hätte.
Zwar werden auch in München so gut wie keine Prozesse über Schulnoten geführt. Doch alle Lehrer an der Isar-Schule haben Angst davor. Und wenn Schulleiterin Rudzio die (verpflichtende) Teamarbeit der Lehrer oder die Transparenz der Notengebung lobt, dann auch, um zu sagen: Unsere Übergangszeugnisse sind gerichtsfest.
Spricht man mit den Eltern der Isar-Schule, reden diese ständig über den Leistungsdruck. Im Gespräch mit den Spree-Eltern fällt das Wort «Druck» kein einziges Mal. Das liegt nicht nur daran, dass die Grundschule in Berlin sechs Jahre dauert. Hier haben – wie in den meisten anderen Bundesländern – die Eltern das letzte Wort über die weiterführende Schule ihres Kindes und nicht die Lehrer.
Die sechs Jahre in der Grundschule wirken sich übrigens auf die Lernfreude der Schüler aus. In Bayern sinkt sie Studien zufolge in der vierten Klasse, in Berlin erst zwei Jahre später. Andererseits verbessert der Leistungsdruck das bayerische Abschneiden im innerdeutschen Leistungsvergleich. Die Tests werden Ende der vierten Klasse erhoben. Exakt dann, wenn der Übergangsstress in Bayern auf seinem Höhepunkt angelangt ist.
Was können die Städte voneinander lernen?
Bei komplexen Gebrechen sprechen Ärzte von einem Syndrom. In diesem Sinn kann man von einem Berliner Schulsyndrom reden. Der Patient laboriert an vielen Leiden, die sich gegenseitig verstärken. Mit einigen, wie der Herkunft seiner Schüler, wird Berlin leben müssen. Andere lassen sich sehr wohl verändern, etwa die hektische Bildungspolitik oder die Laisser-faire-Haltung der Pädagogen. Der Generationswechsel in den Berliner Kollegien bietet dafür eine Chance. Verlassen aber weiterhin die besten jungen Lehrer die Stadt, ist die Chance auf lange Zeit vertan.
Aber Bayern hat keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Zwar sorgt die funktionierende bayerische Schulverwaltung dafür, dass es hier weniger schlechte Schulen und weniger schlechte Lehrer gibt als in Berlin. Allerdings verleidet der Leistungsdruck den Schülern den Spaß am Lernen. Zudem gerät leicht aus dem Blick, dass nur in einem freiheitlichen Klima Fantasie und Kreativität blühen.
Natürlich kann der Vergleich zweier Schulen nur bedingt Evidenz beanspruchen. Doch der Versuch zeigt, wonach Schulforscher eigentlich Ausschau halten müssten – wenn sie denn dürften. Vielleicht ändert sich ja etwas. Bei Hamburgs Schulsenator Ties Rabe zumindest hat sich eine Einsicht durchgesetzt: «Wir müssen stärker nach den Ursachen der Länderunterschiede forschen.» Das sagte Rabe nach dem letzten Leistungsvergleich. Noch etwas versprach er: Die Länder wollen mehr voneinander lernen. Für einen Schulpolitiker keine schlechte Idee.
Fußnote
Der Autor ist befangen. Er hat zwei Kinder an einer Berliner Grundschule. Oft wünscht er sich mehr bayerische Verhältnisse in Berliner Klassen- und Lehrerzimmern. Tauschen will er aber nicht. Er möchte mit seinem achtjährigen Sohn keine Gespräche darüber führen, ob dieser auf dem Gymnasium das Abitur anstreben soll oder eher für die Haupt- oder Realschule geeignet ist.
* Die Namen der Schulen, Lehrer und Schulleiter sind verändert
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