Wie Big Data das Wahlgeheimnis aushebelt Wir wissen, wen du wählen wirst

31.08.2013 ·  Moment der Wahrheit bei Google in Berlin: Ein amerikanischer Wahlkampf-Veteran schildert freimütig, wie sich Daten zur Wählerbeeinflussung nutzen lassen. Und bittet die Datenschützer im Saal, kurz mal Kaffee trinken zu gehen.

Von Stefan Schulz

Willkommen im Big-Data-Neuland: Screenshot der Google-Seite zur Bundestagswahl.
Man muss es nicht genau wissen, es versteht sich heute von selbst. Wenn Google den Wählern hierzulande in der Woche vor der Wahl erstmals seine in vielen Ländern erprobte Wahlkarte zeigt, geht es nicht nur darum, über Wahlkreise, Kandidaten und Landeslisten aufzuklären. Google wird sich im Gegenzug in gleichem Maße dafür interessieren, wie die Wähler dieses Informationsangebot benutzen – und jeden einzelnen Klick genau analysieren. Das Angebot Googles, das darin besteht, den Wählern auf einfache Weise die 3500 Kandidaten für den Bundestag vorzustellen, ist kostenlos. Die Nutzer zahlen mit ihren Daten. So weit, so bekannt.Als am Donnerstagabend die deutsche Vertretung des Unternehmens Journalisten, Wahlkämpfer und Interessierte nach Berlin einlud, um die Google-Projekte zur Wahl vorzustellen, stand allerdings bald selbst Googles Mitarbeitern der Schrecken im Gesicht. Den Hauptvortrag hielt Julius van de Laar, der für Barack Obama im entscheidenden Bundesstaat Ohio Wahlkampf geführt hatte. Er berichtete, was man aus dem digitalen Wahlkampf in Amerika inzwischen gelernt habe. Es ging erst einmal ums Geld: „Meine Güte, 1,2 Milliarden Dollar hatten wir zur Wählermobilisierung zur Verfügung“, begann van de Laar, um gleich darauf zu sprechen zu kommen, was die amerikanischen Wahlkämpfer unter „Wählermobilisierung“ heute verstehen.

Salesman Ringing Doorbell of House

Der Kampagnenvertreter kennt den Wähler genau, denn er hat seine Daten. Eine iPhone-App gibt vor, was er sagen soll.

Die Datenschützer können jetzt kurz rausgehen

Die Ausgangslage 2012 sei schlecht gewesen. Acht Prozent Arbeitslosigkeit, 41Prozent Zustimmungsrate für den Präsidenten, „dazu eine katastrophale Performance des Kandidaten im ersten Fernsehduell“. Allein in der politischen Message habe die Obama-Kampagne klar vorn gelegen. „Mitt Romney – Killerkapitalist“, das ließ sich gut verkaufen, wie auch „General Motors am Leben, Usama Bin Ladin tot“. Die wichtigste Frage, die sich van de Laars Team in Ohio stellte, war, wie man „den Wirkungsgrad des Wahlkampfs steigern könne“, wie sich „die richtigen Wähler effektiver erreichen“ lassen – und wie man einen Bogen um die Wähler macht, die man schon verloren gab.

„Force Multiplication“ hieß das Programm, das jede Botschaft aus dem Wahlkampf ausmerzte, um Platz für „Technologie und Daten“ zu schaffen. „Es ging um Zahlen, Daten und Fakten, nicht um politische Botschaften aus den Hinterzimmern.“ Es ging um „Big Data“, worüber „zuletzt einige Texte erschienen, die die Debatte nun sehr schwer machen“, sagte van de Laar. „Die Datenschützer unter Ihnen, wenn Sie kurz raustreten wollen und sich einen Kaffee holen wollen. Kommen Sie in zehn Minuten wieder“, fuhr van de Laar fort, um darauf zu sprechen zu kommen, wie das „Micro-Targeting“, die planvolle und gezielte Wähleransprache der Obama-Kampagne, funktionierte.

„Payback, bitte einmal die Daten ausspucken“

Ausgangspunkt seien die in Amerika geführten Wählerlisten gewesen. Sie beinhalten Namen und Telefonnummern und führen auf, ob die Wähler an den demokratischen oder republikanischen Vorwahlen teilgenommen hatten. Im zweiten Schritt „haben wir uns einfach einen Haufen Daten gekauft“, sagte van de Laar. „Sie kennen Payback?“, fragte er ins Publikum. „Wir gehen da hin und sagen: ,Payback, bitte einmal die Daten ausspucken.‘“ Diese Daten, die das Einkaufsverhalten der Wähler aufzeigen, die die Payback-Bonuskarte verwenden – was van de Laar als ein Beispiel unter vielen nannte –, seien mit den Daten aus dem Wählerregister fusioniert worden.

Für jeden potentiellen Obama-Wähler wurde ein Datenbankeintrag angelegt und ständig erweitert. Auch das Verhalten im Internet war für die Wahlkämpfer von Interesse. Mit „Cookie-Targeting“ wurde das Online-Verhalten der Wähler über deren Computer ausgespäht und ausgewertet. „Social Media, Data Mining, Data Matching“ seien die Kernpunkte des Vorhabens gewesen, das sich „predictive analytics“ nennt –also auf Vorhersagen abzielte. „Wir wollten herausfinden, wer die Personen waren, die sehr wahrscheinlich nicht wählen gehen, aber uns wählen würden, wenn sie doch hingingen“, benannte van de Laar das Anliegen.

Sympathisanten-Schulung via iPhone-App

Man habe herausgefunden, dass 78 Prozent der Menschen, denen von Freunden oder Bekannten empfohlen wurde, Obama zu wählen, tatsächlich für den Demokraten stimmten. Das Team konzentrierte sich also auf eine zweite Zielgruppe: Menschen, die Obama sicher wählen würden und zusätzlich bereit seien, ihren Freunden und Nachbarn davon zu erzählen. 21000 Freiwillige habe man in den drei Wochen vor der Wahl allein in Ohio mobilisiert. Sie klopften an mehr als 800 000 Haustüren.

Eine iPhone-App gab im Wortlaut vor, wie ein Gespräch zu eröffnen und zu führen sei – und erinnerte mit Nachdruck daran, unbedingt fehlende Daten zu erfassen. „Wir wollten nicht einfach nur, dass Leute rumlaufen und mit irgendwelchen Menschen sprechen, wir wollen nachvollziehen, was genau dort passiert. Wir wollen wissen, wie die Konversationen laufen und welche Informationen wir da herausziehen können“, sagte van de Laar. Der Haustürwahlkampf sei wahlentscheidend gewesen. 750 festangestellte Mitarbeiter beschäftigte das Wahlkampfteam in Ohio, doch entscheidend sei die Arbeit der Freiwilligen gewesen.

„Die Daten waren der Wahnsinn“

Letztlich wurde eine Parallelkampagne unter dem Titel „It’s about YOU“ entwickelt. Das „YOU“ bezog sich auf die Tausenden von Freiwilligen, die den Haustürwahlkampf führten und das wichtigste Element des Wahlkampfs zur Verfügung stellten: persönliche Beziehungen zu denjenigen, die noch zu überzeugen waren. Doch nicht nur an der Haustür habe man sich direkt eingemischt. Alsbald wurde fast jeder Sympathisant zum Freiwilligen. Geholfen hat die moderne Technik: „Wir wollten, dass sich die Leute mit Facebook auf Obamas Internetseite anmelden, um einen Komplettzugriff auf deren Profildaten zu erhalten. Die Daten, die wir hatten, waren der Wahnsinn, und natürlich schauten wir sie uns an, wann es uns passte“, sagte van de Laar. Ein Raunen ging durch den Saal. Dabei hatte van de Laar den entscheidenden Trick noch nicht genannt: Wähler, die sich per Facebook auf Obamas Internetseite anmeldeten, willigten auch ein, dass die Kampagne im Namen der Nutzer Botschaften auf Facebook verbreiten durfte.

„Sie können sich vorstellen, was für ein riesiges Asset das in diesem Wahlkampf war.“ Die Möglichkeit, die digitale Kommunikation zwischen den Wählern steuern zu können, „war deutlich effektiver“ als jedes andere Bemühen im Wahlkampf, sagte van de Laar, weil dadurch „die Authentizität noch einmal deutlich gestärkt wurde“. Die Wähler konnten schlicht nicht mehr unterscheiden, wann sie es mit ihren Nachbarn oder der Kampagne zu tun bekamen. Für die Wahlkämpfer der politischen Parteien im Raum verwies van de Laar auf eine Studie von Infratest Dimap. Auch in Deutschland informierten sich Wähler vorrangig im direkten Gespräch über anstehende Wahlen. „Das, was jetzt gemacht wird, ist der Grundstein für die Zukunft, da wird der Trend hingehen“, sagte van de Laar abschließend.

Maximal legale Wege für ein besseres Targeting

In Amerika sei man allerdings schon an Grenzen gestoßen, führte van de Laar aus. Ein Zeichen des Erfolgs im Haustürwahlkampf seien die vielen Zettel gewesen, auf denen Bewohner notierten, dass sie schon längst überzeugt seien, Obama zu wählen und keine weitere Störung duldeten. Dass das Wahlrecht den Wählern Geheimhaltung zubillige, setzten van de Laars Strategen in einem Fall sogar gezielt außer Kraft. Sie wollten Nichtwähler in den Nachbarschaften in Dankesbriefen nach der Wahl enttarnen. Diesem Vorhaben, „das 25 Prozent Zuwachs“ versprach, setzte eine Morddrohung gegen Mitarbeiter der Kampagne allerdings ein frühes Ende.

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„Stalking“ nannte das die Pressesprecherin der Piratenpartei, Anita Möllering, aus dem Publikum. Der von Google mit einem Pauschalgehalt ausgestattete Journalist Tilo Jung, der Googles Videoplattformen für politische Interviews unter dem programmatischen Titel „Jung&Naiv“ nutzt, wollte von van de Laar wissen, wie mit den Daten nach der Wahl verfahren wurde und was in Deutschland möglich sei. Die Daten lägen für die nächsten Kampagnen bereit, sagte van de Laar. In Deutschland werde der Rahmen des legal Möglichen noch nicht ausgeschöpft. Es gebe „maximal legale Wege, noch deutlich stärker vorzugehen und ein besseres Targeting zu machen“. „Alles andere“, sagte van de Laar, „wäre jung und naiv.“

Diesen „Exkurs nach Amerika“ fand sogar der hiesige Google-Sprecher Ralf Bremer „kontrovers“. Und wandte sich schnell dem nächsten Programmpunkt zu, dem Online-Quiz einer Berliner Künstlergruppe und damit „einer Initiative, die wir im Rahmen unserer Seite unterstützen, anders als das, was Julius van de Laar eben vorgestellt hat“. Das klang authentisch, man würde es Bremer gern glauben. Doch er ist Sprecher des Unternehmens, das Big Data erfunden hat.

DIW Berlin kritisiert Pläne der Bundesregierung zur Umsetzung der Blue-Card-Richtlinie der EU

http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.398019.de

Nach Ansicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) ist es zweifelhaft, ob der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum Zuzug hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Drittstaaten europäischem Recht entspricht.

Denn die Festlegung der Mindestverdienste für Zuwanderer ist nicht transparent, überdies werden geringe Mindestverdienste vorgeschlagen. Zudem sollen Sonderregelungen für solche Berufe festgelegt werden, bei denen es keinen erkennbaren Fachkräftemangel gibt. „Das Gesetzesvorhaben zielt nicht darauf, einen Mangel an Fachkräften zu mindern, sondern darauf, Fachkräfte ins Land zu ziehen, die zu einem Verdienst arbeiten, der weit unter dem bestehenden Lohnniveau liegt“, sagt Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte im DIW Berlin. „Durch eine Billiglohnstrategie wird der Standort Deutschland aber gewiss nicht gestärkt, und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone werden nicht vermindert. Das sollte der Bundestag bei seiner Entscheidung in dieser Woche berücksichtigen.“

Deutschland ist ein Einwanderungsland, und wie die klassischen Einwanderungsländer braucht auch die Bundesrepublik Steuerungsmechanismen für die Zuwanderung von Arbeitskräften. Die vom Europäischen Rat verabschiedete Richtlinie für den Aufenthalt und die Zuwanderung Hochqualifizierter ist daher aus der Sicht des DIW Berlin ein sinnvolles Instrument.

Mit erheblicher Verspätung soll nun auch in Deutschland die Blue-Card-Richtlinie EU in nationales Recht umgesetzt werden. Sie sieht vor, dass Hochqualifizierte aus Drittländern dann eine Beschäftigung in einem EU-Staat aufnehmen können, wenn sie mindestens das 1,5-fache des dortigen nationalen Jahresbruttolohns erhalten. Im Falle eines besonderen und nachgewiesenen Arbeitskräftebedarfs in einem EU-Land reicht auch das 1,2-fache des Jahreslohns.

Die Bundesregierung sieht einen solchen besonderen Bedarf bei Ingenieuren, IT-Kräften sowie Medizinern. Untersuchungen des DIW Berlin haben allerdings gezeigt, dass in Deutschland – abgesehen vielleicht von Medizinern – Fachkräfte in den entsprechenden Berufen keineswegs knapp sind.

Dafür spricht vor allem, dass sich bei Ingenieuren und IT-Kräften die Löhne nur schwach entwickelt haben. Zudem hat es in den entsprechenden Studiengängen einen regelrechten Run auf die Hochschulen gegeben, und die hierzulande bereits rasant wachsende Zahl von Studienabsolventen wird deshalb in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Wie auch Untersuchungen anderer Institute (Bundesinstitut für Berufsbildung / BIBB und Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung / IAB) zeigen, wird es zumindest in den nächsten zehn Jahren zu keinem nennenswerten Mangel an Hochqualifizierten mit naturwissenschaftlich-technischer Ausbildung kommen. Eher ist bald eine Schwemme an Hochschulabsolventen zu erwarten.

Zudem ist von der Politik geplant, die Mindestverdienstgrenze bei aus Nicht-EU-Staaten zuziehenden Ingenieuren, IT-Kräften und Medizinern auf knapp 35.000 Euro festzulegen. Völlig unklar bleibt, wie dieser Wert ermittelt wurde. Gemäß EU-Richtlinie müsste er mindestens das 1,2-fache des durchschnittlichen Bruttojahreslohns betragen. Nach der amtlichen Statistik der Arbeitnehmerverdienste belief sich 2011 jedoch der Bruttojahreslohn für Vollzeitkräfte in Deutschland auf 43.929 Euro, das 1,2-fache davon sind 52.715 Euro. Nimmt man noch die Teilzeitbeschäftigten hinzu, ergibt sich eine Mindestverdienstgrenze von etwa 46.600 Euro.

Die Bundesregierung versucht offenbar, die Lohngrenze sehr tief anzusetzen, und bezieht wohl auch Mini-Jobber, als Aushilfskräfte tätige Rentner und Schüler oder Saisonkräfte in ihre Kalkulation ein. Solche Arbeitskräfte und deren Entlohnung können nach Ansicht des DIW Berlin aber nicht Maßstab für den Zugang Hochqualifizierter zum Arbeitsmarkt eines EU-Landes sein. Mit den von der Bundesregierung geplanten Rechtsänderungen könnten hoch qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittländern in Deutschland Löhne erhalten, die geringer sind als die durchschnittlichen Entgelte von Facharbeitern  im produzierenden Gewerbe.

„Bei den geplanten Gesetzesänderungen geht es wohl darum, einem Mangel an solchen Fachkräften entgegen zu wirken, die bereit sind, eine Beschäftigung anzunehmen, die weit unterhalb des bestehenden Gehaltsniveaus in der Bundesrepublik entlohnt wird“, sagt DIW-Wissenschaftler Brenke. Wären Hochqualifizierte aus Drittländern bereit, zu solchen Bedingungen eine Arbeit aufzunehmen, entstünde ein genereller Druck auf die Löhne hierzulande. Die wirtschaftlichen Verwerfungen innerhalb der Eurozone werden sich nach Ansicht des DIW Berlin aber gewiss nicht verringern, wenn die Bundesrepublik weiterhin auf eine schwache Lohnentwicklung setzt.

Aus Sicht des DIW Berlin ist es nötig:

  • Transparenz darüber zu schaffen, auf welchen Berechnungsgrundlagen die Festlegung die Mindestverdienstgrenzen für hoch qualifizierte Arbeitskräftewanderer aus Drittländern gründen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Regelungen in Deutschland nicht das EU-Recht verletzen. Am besten wäre es, auf gemeinsame, auch in anderen Mitgliedsstaaten der EU erhobene Statistiken zurückzugreifen – also auf die Statistik der Arbeitnehmerverdienste bzw. auf die Erhebung der Lohn- und Gehaltsstruktur.
  • ein Berichtssystem zu schaffen, das regelmäßig darüber informiert, welche Arbeitskräfte in Deutschland tatsächlich knapp sind. Ein solches Berichtssystem sollte vor allem die Lohnentwicklung berücksichtigen. Denn Knappheiten lassen sich generell am besten an den Preisen erkennen – und auf dem Arbeitsmarkt an den Löhnen.

Links

Stellungnahme von Karl Brenke (DIW Berlin) zur Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der EU | PDF, 48.53 KB

«Ingenieure in Deutschland: Keine Knappheit abzusehen» in: Wochenbericht 11/2012 | PDF, 0.79 MB

Bündnis der Angst: Wir Unverantwortlichen Eine Kolumne von Jakob Augstein

Kanzlerin Merkel: Angst vor der Zukunft

Kanzlerin Merkel: Angst vor der Zukunft

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein-merkel-und-die-deutschen-bilden-ein-buendnis-der-angst-a-914775.html

Deutschland vor der Wahl ist das Land der Gelähmten. Die Kanzlerin ist träge, ihr Volk furchtsam. Merkel und die Deutschen bilden ein Bündnis der Angst. Einziges Ziel: die Flucht vor der Verantwortung.

Und, Deutschland, alles gut? Arbeitslosigkeit niedrig, Exporte hoch, Euro-Krise außer Sicht, NSA-Schnüffelei irgendwie verpufft… Alles gut also? Die Oberfläche ist glatt. Darunter fault es.

Im Jahr acht der Regierung Merkel ist Deutschland ein träges Land der Selbsttäuschung. Wir wissen, dass Politik auf den kurzfristigen Erfolg zielt. Politik redet von Verantwortung, will sie aber zumeist nicht tragen. Aber eine Politikerin, die Verantwortung derart auf die leichte Schulter nimmt wie Angela Merkel, ist selten. Geradezu einzigartig dagegen ist ihr Erfolg. Laut der ARD-Umfrage Deutschlandtrend waren die Deutschen seit 1997 noch nie so zufrieden mit einer Regierung wie mit dieser. Es ist paradox: Immer mehr Journalisten und Wissenschaftler entsetzen sich über eine Regierung, die ihr Amt nur zu dem Zweck ausübt, Herausforderungen abzuwenden. Aber was die Journalisten schreiben, ist den Leuten ganz gleichgültig. Mögen die sogenannten Meinungseliten der Kanzlerin Untätigkeit vorwerfen – gerade dafür lieben die Leute sie. Denn in Wahrheit teilen die Deutschen mit Angela Merkel die Angst vor der Zukunft.

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas führt im neuen SPIEGEL bittere Klage. Habermas beschwert sich über die Bequemlichkeit der Deutschen. In der Euro-Krise sehen sie dabei zu, wie die Kanzlerin den Südländern ihre Krisenagenda aufzwingt und sich gleichzeitig aus der gesamteuropäischen Verantwortung Deutschlands stiehlt: «Deutschland döst auf dem Vulkan», schreibt Habermas. Er redet von einem «historischen Versagen der politischen Eliten».

Eine Lähmung liegt über dem Land, und die heißt Merkel

Es kostet den philosophischen Greis Überwindung, das Versagen der Kanzlerin zu geißeln. Denn sein Fach, die Soziologie, handelt von der Macht der Strukturen, nicht von Stärke oder Schwäche des Einzelnen. Aber auch Habermas weiß, «dass es außerordentliche Situationen gibt, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Phantasie, der Mut und die Verantwortungsbereitschaft des handelnden Personals für den Fortgang der Dinge einen Unterschied machen». Die wichtigste handelnde Person heißt Merkel – aber sie handelt nicht.

Eine Lähmung liegt über dem Land, und die heißt Merkel. Jeder Bürger weiß, wo es im Argen liegt – Steuersystem, Bildungschancen, Lohngerechtigkeit -, aber die Leute nehmen das Versagen der Regierung achselzuckend hin. «Die von FDP und Union im Koalitionsvertrag vereinbarte Arbeitsgruppe zur Reform des Mehrwertsteuersatzes schaffte es in vier Jahren nicht, auch nur ein einziges Mal zu tagen», schreibt der SPIEGEL und zitiert einen anderen Philosophen, Peter Sloterdijk, der sagt, in Deutschland herrsche eine «chronische Duldungsstimmung».

Die Verwunderung der Philosophen Habermas und Sloterdijk. Oder die Wut des Soziologen Harald Welzer, der angekündigt hat, der Wahl fernbleiben zu wollen. Oder der Ekel, den der Publizist Sascha Lobo bei Merkels Gleichgültigkeit im NSA-Skandal empfindet. Das sind Empfindungen einer intellektuellen Elite, die vom Volk nicht geteilt werden. Die Leute haben mit ihrer Kanzlerin eine Koalition der Unvernünftigen geschlossen: Kopf einziehen, Augen schließen und hoffen, dass alles irgendwie vorübergehen wird. Aber das wird nicht geschehen. Die Deutschen werden die Zeche zahlen. Wenn der Euro am deutschen Egoismus zerschellt. Wenn das Bildungssystem an seinen Lebenslügen zerbricht. Wenn das Wort Gerechtigkeit nur noch ein zynisches Grinsen auslöst.

Wenn jetzt der Wahlkampf beginnt, wird man schmerzlich das Fehlen der SPD als wehrhafter Opposition bemerken. 100 Jahre ist das «Dreikaiserjahr» der Sozialdemokratie her: 1913 starb August Bebel, Friedrich Ebert übernahm den Vorsitz der SPD, und Willy Brandt wurde geboren. Das ist die große Geschichte der SPD, sie handelt von Revolution, Herrschaft, Phantasie. Was ist davon übriggeblieben? Angst. Wie bei Merkel.

Die Unverantwortlichen, das sind wir selbst

Die SPD hätte Angela Merkel öffentlich als das entlarven müssen, was sie ist: eine leere Seele, deren Furcht vor Veränderung uns alle auf ihr Niveau der inneren Ereignislosigkeit herabzieht. Die SPD hätte die Warnungen der Spindoktoren in den Wind schlagen sollen. Sie hätte einen mutigen Wahlkampf führen sollen. Sie hätte Merkel dort schlagen können, wo sie schwach ist: bei der Überzeugung, bei der Begeisterung, bei der Sehnsucht – beim Gefühl. Sigmar Gabriel und Hannelore Kraft, Jürgen Trittin und Claudia Roth hätten für ein rot-grünes Bündnis der Veränderung in einen Wahlkampf ziehen sollen, der diesen Namen auch verdient. Bei allem Respekt – sie hätten höchstens besser, gewiss nicht schlechter abgeschnitten, als Peer Steinbrück abschneiden wird.

Wir lernen daraus: Wenn es um die Rettung der Zukunft geht, sollte man sich nicht auf die Politik verlassen. Es ist schon so, dass wir unsere Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Wir haben unsere Verantwortung abgegeben. Die Unverantwortlichen, das sind wir selbst. Wir müssen den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit finden. Ohne Mut zur Radikalität wird das nicht gehen.

Die Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft gegen die Trägheit der Mächtigen gibt es nicht kostenlos. Kants sapere aude setzt Mut voraus. Und zwar den Mut, nicht nur zu denken, sondern zu handeln. Der berühmte Spruch, den wir als «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen» übersetzen, ist Teil einer Horaz-Epistel. Und im Original eröffnet sich da noch eine andere Richtung: «Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe.» Das heißt: «Wer erst einmal begonnen hat, hat damit schon zur Hälfte gehandelt. Trau dich zu verstehen! Jetzt fang an!»

Wer das Denken beginnt, hat den halben Weg zur Handlung schon hinter sich gebracht.

Jakob Augstein, Jahrgang 1967, ist seit 2008 Verleger der Wochenzeitung «Der Freitag». Augstein hat vorher für die «Süddeutsche Zeitung» und die «Zeit» gearbeitet. «Der Freitag» steht für kritischen Journalismus aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Er experimentiert mit neuen Formen der Leserbeteiligung und der Verknüpfung von Netz und Print. Die Gestaltung des Layouts vom «Freitag» wurde bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem durch den Art Directors Club, die Lead Awards, den European Newspaper Award und die Society for News Design.

Jakob Augstein:
Sabotage

Warum wir uns zwischen Demokratie und
Kapitalismus entscheiden müssen.

Carl Hanser Verlag; 304 Seiten; 18,90 Euro

 

 

KRISE -Schluss jetzt!

Von Diez, Georg

Der Philosoph Jürgen Habermas hat seinen Schreibtisch verlassen, weil er die Idee von Europa retten will: vor unfähigen Politikern, vor der dunklen Macht der Märkte. Von Georg Diez

Jürgen Habermas ist sauer. Er ist richtig sauer. Er ist so sauer, weil er das alles persönlich nimmt….

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-81933576.html

Protokoll einer Zukunftsvision Das System versagt

Protokoll einer Zukunftsvision Das System versagt

11.02.2013 ·  Der Kapitalismus, in dem wir leben, hält immer noch daran fest, unser Verlangen zu kontrollieren. Deshalb wird er untergehen, wenn er sich nicht ändert, sagt die amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/digitales-denken/protokoll-einer-zukunftsvision-das-system-versagt-12057446.html

Für Shoshana Zuboff beginnt Ökonomie in unserem Verlangen, das Leben so zu führen, wie wir es uns wünschen. In „Information Civilization“, dem Buch, an dem sie gerade schreibt, will sie ausführen, wie ein sozialer Entwurf auszusehen hat, der nicht mehr auf Massenproduktion und Massenkonsum zugeschnitten ist, sondern auf die dezentralisierte Welt des Individuums. „In the Age of the Smart Machine“, 1988 erschienen, hieß ihr erstes vielgerühmtes Buch, in dem sie die technologisch geprägten Umwälzungen durch den Computer voraussagte. „The Support Economy“ wirft vierzehn Jahre später ein frühes Licht auf die Krise unseres Wirtschaftssystems.

Nach dem Philosophiestudium an der University of Chicago und der Promotion in Sozialpsychologie an der Harvard University hat Zuboff als eine der ersten Frauen ab 1981 an der Harvard Business School gelehrt und lebt seit ihrer Emeritierung in einem Landhaus in Maine. Von dort kommt sie regelmäßig nach Boston oder, genauer gesagt, nach Cambridge, wo ich sie in ihrem zweiten Zuhause, einem Hotel nahe dem Harvard Square, getroffen habe. Sie hatte mich gewarnt: „Ich bin eine langsame Denkerin.“ Aber sie hatte nichts von der ansteckenden Begeisterung gesagt, mit der sie ihre Argumente und Ideen entwickelt und in immer wieder neuen, überraschenden Bildern, Beziehungen und Zusammenhängen auf ihre Zuverlässigkeit testet.

Al Gore berichtet in seinem neuen Buch mit dem ahnungsvollen Titel „The Future“ von einer neuen Zwei-Milliarden-Dollar-Anlage, die derzeit von der National Security Agency in Utah gebaut werde und künftig in der Lage sei, jedes Telefongespräch, jede E-Mail, jede SMS, jede Google-Suche und überhaupt jede elektronische Kommunikation, ob verschlüsselt oder nicht, zwischen amerikanischen Bürgern zu überwachen und bis in alle Ewigkeit zu archivieren. Muss es einem da nicht kalt über den Rücken laufen?

Shoshana Zuboff:

Nach der Veröffentlichung meines Buches „In the Age of the Smart Machine“ habe ich „Zuboffs drei Gesetze“ erklärt.

Zuboffs erstes Gesetz lautet: Alles, was digitalisiert und in Information verwandelt werden kann, wird digitalisiert und in Information verwandelt.

Zuboffs zweites Gesetz: Was automatisiert werden kann, wird automatisiert.

Zuboffs drittes Gesetz: Jede Technologie, die zum Zwecke der Überwachung und Kontrolle kolonisiert werden kann, wird, was immer auch ihr ursprünglicher Zweck war, zum Zwecke der Überwachung und Kontrolle kolonisiert. Das beschriebene Projekt bestätigt nur Zuboffs drittes Gesetz.

Neuer sozialer Entwurf

Aber lassen Sie mich etwas weiter ausholen und auf ein Buch zu sprechen kommen, an dem ich gerade arbeite: „Information Civilization“. Die aufkommende globale Zivilisation bedarf eines grundsätzlich neuen sozialen Entwurfs. Was ungeheuer aufregend ist. Denn unsere institutionellen Vereinbarungen müssen komplett neu gedacht werden: die Privatsphäre, das Recht, die gesellschaftliche Verantwortung, auch Dinge wie unsere eigene Transparenz.

Der Überwachungsimpuls hat aber unser tägliches Leben längst kolonisiert. Die Überwachung ist subtil und verdeckt; sie ist eingebettet in Dinge, auf die wir tagein, tagaus angewiesen sind. Nur Experten, nur Informationswissenschaftler und Hacker begreifen noch, wie weit das alles fortgeschritten ist. Wir als Gesellschaft verstehen das nicht mehr.

Ohne Regeln

Die Infrastruktur für die Regelung der neuen Informationswege ist bis jetzt nur in kleinen Teilen vorhanden. Es gibt kein übergreifendes Konzept. Uns dämmert erst langsam, dass Einrichtungen, denen wir unser Vertrauen geschenkt und die wir als unsere Freunde angesehen haben, Facebook zum Beispiel oder Google, nicht nach einer neuen Logik handeln, sondern nach der altbekannten, die unseren Interessen zuwiderläuft.

Welche Richtung die Informationstechnologie einschlägt, kommt darauf an, wie einige gesellschaftliche und ökonomische Kernfragen beantwortet werden. Zurzeit geschieht das ohne Regeln und Gesetze. Die Praxis trifft jetzt die Entscheidungen. Etwas geschieht, weil Facebook, weil Google, weil die Regierung der Vereinigten Staates es so wollen. Der rechtliche Rahmen fehlt.

Ich bin trotzdem keine Pessimistin, keine Apokalyptikerin. Lassen Sie mich ein paar Umwege gehen, um das zu begründen. Meine ökonomische Analyse, wie ich es auch in meinem Buch „The Support Economy“ deutlich gemacht habe, ist nicht die eines Ökonomen. Ich gehe von der Phänomenologie des menschlichen Verlangens aus. Die Ökonomie geht aus der Gesellschaft hervor, die Gesellschaft aus der Geschichte. Gesellschaft ist die Chronik der Evolution menschlicher Komplexität, aus der wiederum menschliches Verlangen erwächst.

Psychologisches Individuum

Ökonomie beginnt mit diesem Verlangen. In der modernen Gesellschaft offenbart Verlangen sich im Konsum. Wie Wedgwood im 18. Jahrhundert verstanden hatte, dass es auf einmal neureiche Familien gab, die Porzellan wie im königlichen Haushalt wollten, gab es in Amerika Anfang des 20. Jahrhunderts Pioniere, die Farmer und Krämer mit Waren versorgten, die sich vorher nur eine Elite leisten konnte. Voraussetzung dafür, das Konsumverlangen zu erfüllen, war ein erschwinglicher Preis. Henry Ford war einer der Ersten, die all die Teilchen des Puzzles zusammensetzten, bis Alfred Sloan bei General Motors die Sache noch weiter entwickelte: So wurde das 20. Jahrhundert zum Massenzeitalter.

Der ungeheure Erfolg des Modells der Massenproduktion und seines Wohlstandswachstums formte die Gesellschaft um; sie wurde komplexer als je zuvor. Und das führte zu größerer Komplexität im Verlangen, in der Arbeitsteilung und schließlich in der menschlichen Erfahrung. Trotz aller Kriege und Gewalttaten ist für mich das dramatischste Produkt des 20. Jahrhunderts jenes Wesen, das ich als psychologisches Individuum bezeichne.

Es ist unsere Last und unser Segen am Ende des Jahrhunderts, dass wir aus dem vertrauten Umfeld vertrieben wurden und auf die Frage nach unserer Identität nicht länger antworten können: Ich bin meines Vaters Sohn, ich bin meiner Mutter Tochter. Jeder von uns trägt die Last, eine eigene Antwort zu finden. Wir müssen uns allein erarbeiten, wer wir sind. So weit die Last.

Neues Bewusstsein

Der Segen besteht darin, dass jeder sich als einzigartig versteht und deshalb einen legitimen Anspruch auf Respekt vor seiner Einzigartigkeit hat. Der Respekt vor dem Individuum aber ist die Antriebskraft für die enorme Ausweitung der Menschenrechtsgesetzgebung, die sich jetzt im 21. Jahrhundert fortsetzt. Ging es früher um Religion, freie Meinungsäußerung und Wahlrecht, wird nun in jedem Bereich unseres Lebens Anspruch auf Rechte erhoben. Von Geschlecht und Sexualität bis zu physischen Fähigkeiten und zum Alter ist kein persönlicher Bereich von diesen Ansprüchen ausgenommen. Ich betrachte das als Aufblühen, als fast unbegreiflich positives Signal von Menschlichkeit. Wir halten uns für wert, in Würde zu leben.

Die Geschichte, die ich Ihnen hier erzähle, scheint mit Ökonomie nichts zu tun zu haben, aber ich mache sie als Kontext geltend, in dem Ökonomie sich entwickelt. Lassen Sie es mich erklären: Wir haben ein institutionelles System aufgebaut, das perfekt auf die Erfordernisse der Massenproduktion und des Massenkonsums zugeschnitten ist und weit über die entsprechenden Firmen und Dienstleister hinausreicht. Die Logik der Massenproduktion wurde zur Grundlage unseres Erziehungssystems, unserer Krankenversorgung, aller Sphären unserer Gesellschaft. Seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kommt es aber zu einer immer heftigeren Kollision zwischen dem neuen Bewusstsein, das ich psychologische Selbstbestimmung nenne, und einem Wirtschaftssystem, das auf große Handelsvolumen, geringe Produktkosten und Standardisierung angelegt ist, eigentlich nicht anders als zu Zeiten von Henry Ford.

Zyklus der Akkumulation

Das alte Geschäftsmodell trifft nun auf eine Gesellschaft, die mehr und mehr vom neuen Individuum geprägt wird, das etwas ganz anderes will. Es ist leicht, an einen Toaster oder ein Auto zu kommen. Die Kosten für diese Waren sind gesunken. Warum? Zum Teil, weil sie für uns nicht mehr den Wert haben, den sie einmal hatten. Wir zahlen für Verbrauchsgüter nur, wie viel wir wollen. Wir wollen jetzt aber die Ressourcen, die es uns erlauben, unser Leben effektiv zu leben, oder anders gesagt: Zugang zu den materiellen und immateriellen Ressourcen zu haben, die wir brauchen, so zu leben, wie wir leben wollen. Solche Ressourcen werden aber kaum angeboten. Daher die Kollision.

Unser System befindet sich im Niedergang, und dieser Niedergang stellt den Endteil eines Zyklus der Akkumulation dar. Die fundamentale Natur des ökonomischen Werts ist im Wandel begriffen: Früher mussten Waren einen inneren Wert an sich haben, um auf dem Markt verkauft zu werden. Stattdessen ist der Wert jetzt latent in der Erfahrung jedes Individuums vorhanden und kann nur realisiert werden, wenn das Verlangen des Individuums erkannt und erfüllt wird.

Diese unterschiedlichen Werte bedürfen total unterschiedlicher Mechanismen, ökonomischer Kalkulationen und technischer und sozialer Systeme, um verwirklicht zu werden. Je hartnäckiger wir versuchen, die alten Prozesse im neuen Kontext beizubehalten, desto größere Reibungen entstehen, desto mehr an Wert bleibt unrealisiert.

Innovation, Mutation

In jedem Zyklus ist Akkumulation erfolgreich, wenn sie im Einklang mit dem Bedarf ist. Verloren geht der Einklang, wenn die alte Version des Kapitalismus sich weniger und weniger am neuen Verbraucher orientiert. Die bestehenden Einrichtungen aber sind nur in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Sie vermögen sich nicht zu transformieren, weil sie in ihrer alten Logik gefangen sind.

Das beste Beispiel ist die Autoindustrie vor Henry Ford. Autos waren Luxusgegenstände, deren Hersteller sich gegenseitig mit immer teureren und luxuriöseren Wagen übertreffen wollten. Sie haben nicht die neue Welt gesehen, in der Normalbürger auch gern Autos gehabt hätten, aber sie sich nicht leisten konnten. Henry Ford, ein Outsider, der nichts mit der Industrie zu tun hatte, musste kommen, um mit den alten Vorgängen zu brechen und die Elemente einer vollständig neuen Logik zusammenzufügen. Niemand hatte zuvor die Idee, mehr zu produzieren, um etwas billiger anbieten zu können.

Ein System im Niedergang neigt nun dazu, den Niedergang mit Innovationen, mit kleinen Veränderungen hier und dort aufzuhalten. Seine Führungskräfte gehen nicht anders vor als die Astronomen, die im Zeitalter des Kopernikus wussten, dass die Daten nicht mehr die Theorie stützten, und daraufhin ihre Theorie zu erneuern suchten, um sie wieder mit den Daten in Übereinstimmung zu bringen, auch wenn sie dazu die verrücktesten Dinge erfinden mussten. Es hat bekanntlich nicht funktioniert. Wird nur noch von Innovation geredet, ist das ein sicheres Zeichen für den Niedergang. Und heute redet jeder von Innovation. Warum sieht es dann so düster aus? Innovation reicht nicht. Es muss zur Mutation kommen.

Dezentralisierte Wertschöpfung

Die biologische Metapher der Mutation ist durchaus angebracht, denn es geht hier um evolutionäre Prozesse. Es gibt gegenwärtig viele Mutationen, und einige davon sind sogar von Dauer, weil sie in die neue Umgebung passen, also in die Umgebung, die menschliches Verlangen in den Mittelpunkt stellt. Innovation hingegen dient lediglich dazu, ein System reparieren zu wollen, das seine Nützlichkeit überlebt hat. Systeme haben nun einmal eine begrenzte Reichweite. Das System des Managerkapitalismus mit seiner konzentrierten Organisation, hierarchischen Kontrolle und Ausrichtung auf den Massenkonsum ist an seine adaptiven Grenzen gestoßen. Innovation hält es bloß künstlich am Leben.

Wir sind am Ende des zyklischen Bogens angelangt, den der Managerkapitalismus durchs 20. Jahrhundert gespannt hat, und beginnen allmählich, Mutationen in organisatorischen Mischformen zu sehen, in Hybriden. Zudem macht sich das Ende des Akkumulationszyklus, wie es immer in der Geschichte des Kapitalismus geschehen ist, in einer Phase der Finanzialisierung bemerkbar. Das bedeutet, der Kommerzapparat ist ermattet, zieht sich von Güterproduktion und Handel zurück und benutzt das angehäufte Kapital als Basis, um mit finanziellen Instrumenten Profit zu erwirtschaften. Die Folge ist eine Kontraktion, in der Firmen finanziell gesund sind, dank Gewinnen durch finanzielle Transaktionen, aber der Wohlstand der Gesellschaft abnimmt. Soziales Chaos ist unvermeidbar.

Jetzt aber sind wir auf dem Weg in eine Welt der dezentralisierten Wertschöpfung, des distributed capitalism. Das ist keine technologische Metapher. Die Dezentralisierung geht von den Individuen aus, die nunmehr die Quelle ökonomischer Werte sind. Individuen sind aber nicht innerhalb einer Organisation zu finden, sie treten nicht in konzentrierter Form auf, sie verteilen sich über ihre dezentralisierten Lebensräume. Folglich muss sich auch der Handel dezentralisieren, um in diesen Lebensräumen Wirkung zu zeigen. Heute haben wir erstmals eine technologische Infrastruktur, die ebenso dezentralisiert ist.

Hybridformen

Nehmen wir den iPod. Was hat Steve Jobs da getan? Ich glaube, er hat es selbst nicht gewusst, und darum kann er nicht in einem Atemzug mit Henry Ford genannt werden. Ford war sich sehr bewusst, was er getan hatte. Er hat die Massenproduktionslogik erfunden und war ihr Missionar. Er wollte damit die Welt beglücken. Er verstand, dass Massenkonsum zur Massenproduktion führte. Wie ist das nun mit dem iPod? Schauen Sie sich den Niedergang der Musikindustrie an. Niemand will mehr Geld für CDs ausgeben. Warum nicht? Weil ich nicht die Songs will, die du für mich ausgesucht hast. Ich will die Songs, die mir gefallen, und mit der digitalen Infrastruktur, die mir erlaubt, Songs herunterzuladen und mit anderen zu teilen, gibt es für mich keinen Grund mehr, ein materielles Paket zu kaufen.

Ich als Individuum will meine Musik in meinem Raum hören. Die Musikindustrie hat sich derweil in ihrem Organisationsraum verkrochen. Da kommt plötzlich dieses Computerunternehmen, das nichts mit der Musikindustrie zu tun hat und sie nicht verbessern, nicht erneuern will. Es setzt einfach sein technologisches Knowhow ein und denkt sich völlig neu aus, wie Leute erschwinglich mit Musik zu versorgen sind. Das Geschäft geht draußen vom Nutzer aus, nicht drinnen von der Firma. Eine Inversion der Geschäftsperspektive findet statt. Das meine ich, wenn ich von einer neuen Basis für eine neue ökonomische Logik spreche. Ein verborgener ökonomischer Wert wird als individueller Wert im individuellen Raum realisiert. War das bei Apple eine vollständige Mutation? Nein. Viele Aspekte der Firma sind noch in der alten Logik verfangen. Apple ist ein Hybrid. Der iPod aber hat den Pfad zu einem neuen Zyklus einer neuen Form des Kapitalismus eröffnet.

Auch Google sieht in mancherlei Hinsicht wie eine Mutation aus, ist aber gleichfalls nur ein Hybrid. Woran das zu erkennen ist? Hybride wie Google lassen es zu, dass neue Formen von der alten Logik kolonisiert und infiltriert werden. Wenn Facebook zum Beispiel auf Profit aus ist, fragt es sich dann, wer der Nutzer ist, wonach er verlangt und wie das Unternehmen ihm helfen, wie es mit seinen Interessen gleichziehen kann? Es könnte sich als Plattform für Bildung, für die Krankenversorgung und viele andere Dinge empfehlen, durch die sich unsere Lebensqualität steigern ließe. Und wofür wir bereit wären, etwas zu zahlen. Facebook tut das jedoch nicht. Die Firma verschafft sich Geld nach dem alten Modell, nämlich durch Anzeigen.

Individuelles Vertrauen

Facebook schien einmal uns zu gehören. Es war unser Raum. Jetzt verstößt Facebook immer wieder gegen die ökonomische Logik des individuellen Raums, widersetzt sich unseren Interessen und zerstört unser Vertrauen. Google verhält sich nicht anders. Der Machtwille der Firma ist sichtbar geworden, auch ihre Manipulation von Algorithmen und ihre Bereitschaft zur Überwachung. Wir fühlen uns bloßgestellt, allein schon durch eine Google-Suche. Meine beiden Kinder haben Facebook innig geliebt. Heute rühren sie es nicht mehr an. Facebook, das ist für sie jetzt: die da. Und nicht mehr: wir.

Noch einmal: Ökonomischer Wert ist in jedem Individuum verborgen. Ich bin bereit, für Dinge zu zahlen, die mir helfen, ein effektives Leben zu führen. Um zu verstehen, wonach ich verlange, musst du in meinen Raum kommen, und ich muss dir deshalb vertrauen können. Wenn du meinen Raum missbrauchst, schalte ich dich ab. Dieses Verlangen und meine Bereitschaft, dafür zu zahlen, dass mein Verlangen erfüllt wird, eröffnen den nächsten großen Horizont des ökonomischen Wertes. Eine ganz neue, noch nicht kartographierte Landschaft tut sich da auf.

Der Ort des ökonomischen Werts hat sich ins Verlangen des Individuums verlagert. Wären Facebook oder Google oder Apple sich ihrer Rolle als historische Kraft bewusst, würde keiner von ihnen gegen das Interesse seiner Nutzer handeln. Denn sie wüssten, dass sie so auch künftigen Profit verringerten. In jedem Augenblick, in dem sie das Vertrauen des Individuums enttäuschen, geht ihnen Geld verloren. Ist das deutlich genug gesagt?

Protokolliert von Jordan Mejias

BuchauszugRauchen und der Terror der Tugend

Buchauszug: Rauchen und der Terror der Tugend

In diesen Tagen ist «Glänzende Zeiten» erschienen, das neue Buch des ZEIT-Redakteurs Adam Soboczynski. Eine ironische Betrachtung unserer Welt in 29 Kapiteln. Ein Auszug

http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-10/adam-soboczynski-auszug

Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Torun, ist Feuilletonredakteur der ZEIT

Der Autor

Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Torun, ist Feuilletonredakteur der ZEIT. Im Jahr 2007 erschien sein Buch Polski Tango, 2008 sein Erzählband Die schonende Abwehr verliebter Frauen, oder: Die Kunst der Verstellung. Er lebt in Berlin.

Die Anzahl der Lokale, die ich ab und an aufsuche, ist zusammengeschrumpft auf ein paar ganz wenige, in denen man noch trinken und rauchen darf. Natürlich gibt es Bars, in denen man nur trinken darf und die einigermaßen gut besucht sind, nur geht man schon der Besucher wegen nicht dorthin, die, wie jeder weiß, von unglaublicher Langeweile und behäbiger Gewöhnlichkeit sind. Und natürlich verderben dort die Kinder, die neuerdings überall hin mitgebracht werden, da sie sich in derartigen Etablissements langweilen und herumzetern, die Stimmung.

Niemals würde man ja in Anwesenheit von Kindern einen Annäherungsversuch an eine Frau wagen, weil Kinder ja so unschuldig sind und gleich komisch und neugierig gucken und einen anstupsen. Und oft habe ich schon gedacht, dass die Paare, die mit Kindern immer in Cafés und in Bars herumsitzen, ihre Kinder eigentlich nur mitnehmen, um zu verhindern, dass andere Leute einander rauchend näherkommen, da sie selbst, erloschener Leidenschaft wegen, es den Leuten, die ohne Kinder da sind, einfach nicht gönnen, dass die einander sich näherkommen, weshalb sie jede Bar, die früher immer Ort der dunklen Geheimnisse, der schlüpfrigen Anbandelei und abwegigsten Frivolitäten gewesen ist, zum Kinderspielplatz verwandeln.

Überall hin werden ja heute die Kinder mitgebracht. Nicht so sehr, wie jeder weiß, weil die Eltern notgedrungen, mangels eines Babysitters, sie überall hin mitnehmen müssten, sondern weil sie, die man nur bemitleiden kann, stolz herumgezeigt werden sollen, Trophäen des gesunden Volkskörpers, die den kinderlosen Flaneur des lendenschwachen Sozialschmarotzertums bezichtigen. Mit größtmöglicher Umständlichkeit und Unachtsamkeit drängeln sich die Mütter und Väter heute mit ihren Kinderwagen in die Tram, entschleunigen so die Großstadt, enterotisieren sie durch das Geschrei ihres allen immerzu dreist präsentierten Nachwuchses, der sich ja gar nicht wehren kann gegen sein beständiges Ausstellen, Präsentieren und Vorführen.

In den wenigen Bars, in denen man noch rauchen und trinken darf, spricht man häufig, da sie ja so selten geworden sind, darüber, welch ein Vergnügen es ist, dass es noch Bars gibt, in denen man noch trinken und rauchen darf, gerade weil man weiß, dass man bald auch noch um dieses Vergnügen gebracht werden wird. Weil es ja den Leuten nicht reicht, dass es nur noch wenige Kneipen gibt, in denen man trinken und rauchen darf, nein, sie sollen ganz weg! Es muss ja immer gleich kurzer Prozess gemacht werden.

So sprachen auch der Freund, der erfolgreich etwas mit Kultur macht, und ich, als wir noch zu sehr später Stunde ein Lokal aufgesucht hatten, in dem man noch rauchen und trinken darf, und dass, nachdem wir bei mir bereits zwei ungute Flaschen Wein aus Südfrankreich getrunken hatten, erst einmal darüber, wie gut es doch ist, jetzt noch ein Lokal gefunden zu haben, in dem man noch rauchen und trinken darf.

Ich erzählte, obgleich ich vage wusste, dass ich ihm diese Geschichte schon mindestens einmal erzählt hatte, davon, dass ich vor einigen Jahren, als ich nach einem zweisemestrigen Studienaufenthalt in Amerika, der mir als entsetzlich, im Mindesten aber als völlig überflüssig erinnerlich ist, zurückgekehrt war, mir am Flughafen eine Flasche Bier kaufte, den IC bestieg, der in einem unterirdischen Trakt des Bahnhofs abfuhr, dass ich mich gleich in ein Raucherabteil setzte, mir eine Zigarette anzündete und schon kurz darauf dumpf, da mir die Zeitverschiebung zusetzte, hinaus auf eine unaufgeregte Landschaft mit sanften Hügeln schaute.

Dass man tatsächlich mit einer Flasche Bier rauchend im Zug sitzen konnte, sagte ich, ohne von den anderen Fahrgästen sogleich als verrohtes Subjekt wahrgenommen zu werden, sondern, im Gegenteil, als ein ganz gewöhnliches und zivilisiertes, schien mir zutiefst menschenfreundlich, etwas, das ich in dem Land, aus dem ich endlich entkommen war, schmerzlich vermisst hatte. Heute, sagte ich, würde ich niemals mit einer Flasche Bier das Abteil betreten, sogleich würde man nämlich als verrohtes Subjekt aufgefasst werden.

Es hatte mir in Amerika nie eingeleuchtet, sagte ich, nachdem wir endlich – wir saßen an der Bar – das Bier von einer etwas unbeholfen zapfenden jungen Frau hingestellt bekamen, dass die Parks um sieben Uhr abends verriegelt wurden, dass man in den Bars nicht rauchen durfte, dass man auf Straßen keinen Alkohol trank, dass man seine Volljährigkeit ausweisen musste, um ein Lokal zu betreten, dass es verpönt war, sich zu Fuß fortzubewegen, dass es also keine städtische Kultur mit Passanten gab, dass keine Züge fuhren, die weit voneinander entfernte Städte miteinander verbanden, dass die Schilder der wenigen öffentlichen Strände ungeheure Verbote anzeigten: kein Lagerfeuer, keine Glasflaschen, angemessene Kleidung, kein Rumhängen («loitering»), und natürlich auch hier: weder Rauchen noch Trinken!

Europa, sagte ich, während wir auch schon, glaube ich, das zweite Bier bestellten, unterschied sich noch vor wenigen Jahren von Amerika darin, dass es die Angst vor dem Individuum mit seinen verlotterten Sitten und Süchten nicht kannte, dass es recht großzügig verfuhr mit unseren Fehlbarkeiten und Schwächen, dass es darauf setzte, dass sich das Alltagsverhalten erwachsener Menschen im Großen und Ganzen selbst regelt.

Woher nur stammt nun das entflammte Misstrauen, das uns seit einiger Zeit auch hier entgegenschlägt?, fragte ich den Freund. Und antwortete gleich selbst: Weil die Politiker begriffen haben, dass sie der Mehrheit schmeicheln können, wenn sie derart vormodernes Verhalten wie Rauchen und Trinken mit dem Terror der Tugend angehen. Der Staat, sagte ich, ohnmächtig wie er ist, da sein Einfluss mit der Globalisierung herabsinkt, trumpft als Sittenwächter auf. Er darf auf Applaus hoffen, wo er an den niederen Instinkten des Volkes rührt, auf diesem Feld erstrahlt er noch einmal wundersam tatkräftig.

Die verkommenen Eckkneipen des Arbeiters, sagte ich zu dem Freund, die von den zugezogenen Süddeutschen im Prenzlauer Berg als letzte Oasen der Ruhestörung und Versoffenheit argwöhnisch beäugt werden, braucht man nicht zu verbieten. Es reicht, ein Rauchverbot zu erlassen, das den Gepflogenheiten der sich am Schnaps tröstenden Schicht grob zuwiderläuft. Lustbarkeiten, die man sich selbst verkneift, um am nächsten Morgen ausgeschlafen und frisch rasiert im Architekturbüro zu erscheinen, gönnt man dem faulen Gesindel, das eh nur Steuergelder abgreift, gar nicht gerne, sagte ich. Wie man dem Kinderlosen nicht gönnt, dass er in Bars und Cafés noch das Abenteuer sucht und er das Bewundern fremder Leute Familienglück nicht als Gipfel seiner Freizeitgestaltung begrüßt. Alles, ja, man muss es so drastisch sagen, sagte ich, wirklich alles, was im Namen von Volksgesundheit und Umwelt als derzeit im Alltagsverhalten wünschenswert propagiert wird, fördert das Ressentiment und die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit. Ich habe kürzlich erst gehört, dass, glaube ich, die Schweden ein europaweites Verbot der Prostitution durchsetzen wollen. Es ist entsetzlich.

Verboten werden in manchen Bundesländern, wie ich las, schon der Verkauf von Alkohol an Tankstellen, verboten werden die Außengastronomie am frühen Abend und das Rauchen sogar draußen, auf dem Spielplatz etwa, was den großen Vorzug hat, vermute ich, sagte ich, dass die sonnenbankgebräunte Unterschichtenmutter mit ihren feisten Töchtern und Söhnen ihm lieber fernbleiben. Wie auch der kettenrauchende alleinerziehende Vater intellektueller Prägung nunmehr seinen Balkon vorziehen dürfte. Wie überhaupt die Unterschicht mit dem Intellektuellen die Laster teilt. Der Blick ist gerichtet auf die Dicken, die man dünn haben will, die Untüchtigen, die man tüchtig haben will, die Lesenden, denen man nützliche Arbeit an den Hals wünscht. Der untüchtige Hausmeister wird heute in gleichem Ausmaß verachtet wie der einsame Leser, dessen genussvolle Muße jedem Gehetzten als Affront entgegenschlagen muss.

Von besonderer Niedertracht, sagte ich dem Freund, sind die Statistiken, die man überall in der Zeitung oder im Netz über den volkswirtschaftlichen Schaden des Rauchens lesen kann. Schon die Zigarettenpausen, die der Arbeitszeit abgetrotzt werden, machen einen Schaden von soundso vielen Hunderten Millionen aus. Mit gleichem Recht aber, sagte ich, müsste man gegen jene Sekretärinnen vorgehen, die sich im Stundentakt das Make-up auffrischen und so immerzu ihre Arbeit unterbrechen, gegen die blasenschwachen Ministerialbeamten und gegen Ärzte, die sich zu oft in der Nase popeln, gegen diejenigen, die heimlich private E-Mails schreiben, und gegen die Verträumten, die zu oft aus dem Fenster schauen, ach, gegen alle.

Das «gegen alle» war dann doch etwas zu laut daher gesagt, die Bedienung rollte die Augen, der Freund klopfte mir scherzhaft auf die Schulter, wies freundlich, aber entschieden zum Ausgang, und ich sagte nur noch, als wir wieder hinaustrauten auf die Straße, die sich bereits im mahnenden Dämmerlicht abzeichnete, und ich mich gähnend streckte, dass jeder Nichtraucher eh nur ein Übergewichtiger mehr sei, gegen den man auch schon wieder etwas haben könne.

Aus:

Adam Soboczynski
«Glänzende Zeiten. Fast ein Roman.»,

Aufbau Verlag,
Berlin 2010,
224 Seiten,
18,95 Euro

Adam Soboczynski liest aus seinem neuen Roman: http://www.zeit.de/video/2010-10/626947888001

Robert Pfaller»Genuss ist politisch»

Robert Pfaller«Genuss ist politisch»

http://www.zeit.de/campus/2012/06/robert-pfaller-philosophie-genuss

Robert Pfaller

Der Philosophieprofessor Robert Pfaller, 50, gilt als klügster Gegner des Rauchverbots – dabei greift er selbst kaum zur Zigarette. Sein Essay »Wofür es sich zu leben lohnt« erschien gerade als Taschenbuch (Fischer, 2012)

Der Philosoph Robert Pfaller

Der Philosoph Robert Pfaller verteidigt die Unvernunft. Das Leben sei nur dann lebenswert, sagt er, wenn wir miteinander feiern, trinken und schlafen.

ZEIT Campus: Herr Pfaller, wann haben Sie das letzte Mal eine kindische Dummheit begangen?

Robert Pfaller: Oh, erst vor Kurzem. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, welche.

ZEIT Campus: Nicht? Dabei schreiben Sie, man müsse sich kindische Dummheiten gönnen, sonst sei das Leben nicht lebenswert.

Pfaller: Bezeichnenderweise kann man anderen Leuten heute aber nichts mehr vorbildhaft vorleben – auch nicht als Philosoph. Früher war das anders: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir zum Beispiel führten in den 1950er Jahren eine offene Beziehung. Das passte zu ihrer Philosophie, wich von den Moralvorstellungen ab – und hatte eine Vorbildfunktion, die etwas in der Gesellschaft veränderte. Heute ist das nicht mehr möglich. Wer heute abweicht, wird nur als Freak wahrgenommen. Die anderen nehmen sich kein Beispiel, sondern zeigen bloß mit dem Finger auf ihn.

ZEIT Campus: Heute ist aber auch viel mehr erlaubt als in den 1950ern!

Pfaller: Da sollten wir uns nicht täuschen. Wir dürfen heute nicht viel mehr. Der Unterschied ist, dass wir uns mit immer besseren Argumenten selbst verbieten, was uns früher von anderen Menschen verboten worden wäre.

ZEIT Campus: Das müssen Sie bitte erklären.

Pfaller: Frauen und Männer sind heute mindestens genauso sexfeindlich und scheu wie in den 1950ern. Nur die Gründe sind andere. Damals fürchtete man den Verlust des öffentlichen Ansehens und die gesellschaftlichen Tabus. Heute sind die Motive Emanzipiertheit und Respekt vor der Emanzipation. Was früher als höflicher und charmanter Umgang galt, lehnen wir ab, weil wir solche sozialen und kulturellen Gebote als »normierend« empfinden. Wir fürchten um die Selbstbestimmung und unsere angeblich so verletzliche Identität.

ZEIT Campus: Ist doch gut: Jeder kann sein, wie er will.

Pfaller: Auffällig ist nur, dass die wenigsten dabei glücklich sind. Psychoanalytisch ist das erklärbar: In jedem Begehren, das wir haben, steckt auch das Begehren der anderen. Jede Mode, die uns gefällt, gefällt uns, weil sie anderen gefällt – und weil wir hoffen, anderen darin zu gefallen. Wenn wir das für Fremdbestimmung halten und ablehnen, dann rebellieren wir aber nicht gegen einschränkende Normen, sondern gegen unsere Geselligkeit. Gegen gesellschaftliche Ideale, die uns helfen, keine miesen Spaßverderber zu sein. Gesellschaftliche Ideale, die für unser Glück notwendig sind.

ZEIT Campus: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Pfaller: Wenn wir Fußball spielen, mag es frustrierend sein, sich mit einem Zinedine Zidane zu vergleichen, aber es spornt auch an und führt zu Glücksmomenten, wenn uns etwas Kleines gelingt. Wenn mir aber gesagt wird: »Hier ist ein Ball, spielen Sie doch so, wie Sie wollen«, dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich glaube, dass das Unglück vieler Menschen auch daher kommt, dass uns die Idealvorstellungen fehlen.

ZEIT Campus: Und warum sind Ihnen neben den Vorbildern die kindischen Dummheiten so wichtig?

Pfaller: Während uns die sozialen Ideale abhandengekommen sind, beherrscht uns heute das viel perfidere, im »Ich« verankerte Ideal der Vernunft. Wir erleben nicht mehr den äußeren Druck, uns auf irgendeine Weise akzeptabel zu verhalten, sondern den inneren Druck, immer vernünftig zu sein. Das heißt: möglichst effizient zu handeln, uns permanent selbst zu optimieren und alles zu vermeiden, was zwar lustvoll, aber scheinbar schlecht für uns ist. Deshalb trinken wir Bier ohne Alkohol, essen Margarine ohne Fett und haben im Internet Sex ohne Körperkontakt.

ZEIT Campus: Was spricht dagegen?

Pfaller: Immer nur vernünftig zu sein ist kein Kennzeichen davon, dass man tatsächlich vernünftig ist. Man verhält sich dann nicht erwachsen, sondern schrecklich altklug. Altkluge Kinder sagen: »Ich werde nie Alkohol trinken! Ich werde nie meine Zeit mit Mädchen verschwenden!« Sie verstehen nicht, warum Erwachsene scherzen, sich berauschen oder sich verlieben, also unvernünftige Dinge tun.

ZEIT Campus: Und warum tun Erwachsene das?

Pfaller: Wer nur vernünftig ist, funktioniert wie eine Maschine. Das ist nicht lebenswert. Wir arbeiten dann ständig dafür, unser Leben zu finanzieren und zu verlängern. Aber wir fragen uns nicht, wofür wir überhaupt am Leben sind. Erst wenn wir unvernünftige Dinge tun, tanzen, trinken oder uns verlieben, haben wir das Gefühl, dass es sich zu leben lohnt.

ZEIT Campus: Woran liegt das?

Pfaller: Nur wenn wir ein bisschen verschwenderisch mit dem Leben umgehen, verhalten wir uns wirklich souverän und frei, weil das Leben dann nicht mehr Mittel zum Zweck ist. Alles, was uns Genuss verschafft, hat deshalb ein zwiespältiges und unvernünftiges Element. Alkohol ist ungesund, Sex ist unappetitlich, und Musikhören ist Zeitverschwendung.

ZEIT Campus: Wir genießen nur das, was uns schadet?

Pfaller: Ja, und deshalb können wir Alkohol, Sex und selbst den Müßiggang des Musikhörens nur in bestimmten Momenten, gemeinsam mit anderen, genießen. Allein ein Glas Sekt zu trinken macht keinen Spaß. Dafür schmeckt es umso besser, wenn jemand sagt: »Wir lassen jetzt die Arbeit ruhen und stoßen an, denn die Kollegin hat Geburtstag!« Es ist die besondere Kraft der Kultur, dass sie uns aus unserem vernünftigen, aber unsouveränen Alltagsverhalten herausreißen kann. Sie erlaubt uns, ab und zu unvernünftig zu sein und mit anderen Menschen das Leben zu genießen.

ZEIT Campus: Mal ehrlich: Beschäftigen Sie sich nicht mit philosophischen Luxusproblemen?

Pfaller: Im Gegenteil: Es ist ein Ausdruck unserer Luxusgesellschaft, dass wir glauben, uns mit diesen Fragen nicht mehr beschäftigten zu müssen. Wenn sich unterdrückte Menschen zu Revolutionen erheben, geht es ihnen niemals nur um den Kampf gegen Hunger oder Armut, sondern immer auch um Glück und Würde. Diese Revolutionäre fordern ein Leben, für das es sich zu leben lohnt. Diese Forderung ist in den reichsten Gesellschaften der Welt abhandengekommen.

ZEIT Campus: Die EU bricht auseinander, der Klimawandel ist kaum noch zu stoppen, und Sie sagen: »Leute, genießt euer Glas Sekt«?

Pfaller: Die Genussfrage ist aus meiner Sicht eine politische Frage. Früher gab es einen öffentlichen Raum, der von gemeinsamen Idealen geprägt war. Man trug in der Öffentlichkeit feinere Kleider und benahm sich höflicher als zu Hause. Wenn andere rauchen wollten, dann ließ man das zu, denn das galt als elegant. Weil es diese geteilten Vorstellungen von Eleganz nicht mehr gibt und jeder die Qualität von Öffentlichkeit mit seinen privaten Maßstäben misst, sind wir heute schnell dabei, alles zu verbieten, was uns stört: Auf manchen öffentlichen Plätzen darf kein Alkohol mehr getrunken werden, in Bars und Restaurants gilt das Rauchverbot.

ZEIT Campus: Aber es ist doch auch unhöflich, anderen Rauch ins Gesicht zu blasen.

Pfaller: Während uns das Rauchverbot als Fortschritt verkauft wird, finden enorme politische Beraubungen statt. Sie haben heute vielerorts keinen Anspruch mehr auf öffentlich finanzierte Hochschulbildung, auf soziale Sicherheit oder auf eine verlässliche Altersvorsorge – geschweige denn auf Würde, Eleganz und Genuss. Das müssen Sie alles privat für sich regeln. Die Öffentlichkeit wird zu einer Sphäre von Verboten und von Verzicht.

ZEIT Campus: Man könnte auch sagen, dass es ein Zeichen von Souveränität und Freiheit ist, Alkohol und Zigaretten abzulehnen.

Pfaller: Dann stellt sich die Frage, wo wir Freiheit verorten. Bin ich da frei, wo ich auf meine kleine, einsame Privatexistenz reduziert bin und mir nicht zugetraut wird, über meine Befindlichkeiten hinauszuwachsen? Oder ist Freiheit das, was meine gesellschaftliche, politische und öffentliche Existenz ausmacht? Ich denke, Freiheit liegt in der Öffentlichkeit, in der Existenz als politischer Bürger gemeinsam mit anderen. Wenn jeder nur seine Eigeninteressen verfolgt, ist das keine Befreiung, sondern Entpolitisierung und Entsolidarisierung.

ZEIT Campus: Erst dadurch, dass wir genießen, werden wir zu politischen Bürgern?

Pfaller: Umgekehrt: Wir müssen politische Bürger werden, um genießen zu können. Wir müssen uns öffentliche Räume zurückerobern, um glücksfähig zu werden. Dabei müssen wir uns gegen eine Regierung wehren, die die Bankenaufsicht vernachlässigt und stattdessen das Rauchen verbietet – und auch dagegen, dass uns Ideen als befreiend oder solidarisch vorkommen, die es gar nicht sind.

ZEIT Campus: Was meinen Sie damit konkret?

Pfaller: Etwa die Idee der Vielfalt, oder diversity, die in Wahrheit immer eine Vielfalt von einfältigen Identitäten und homogenen Communitys ist. Statt von Community, also Gemeinschaft, sollten wir von Gesellschaft sprechen.

ZEIT Campus: Was ist falsch an der Community?

Pfaller: Niemand ist nur Frau, nur Muslim oder nur Bondage-Fan. Alle können auch etwas anderes, Öffentliches sein. Wir brauchen öffentliche Räume, in denen man uns zutraut, von unseren privaten Eigenschaften abzusehen und mit Menschen solidarisch zu sein, mit denen wir keine privaten Interessen teilen. Das allein macht schon ziemlich glücklich.

ZEIT Campus: Genießen Sie mehr oder weniger, seit Sie beruflich über dieses Thema nachdenken?

Pfaller: Das Nachdenken über Glück und Genuss kann ein wichtiger Teil des Glücks sein. Und das genieße ich sehr.

 

Liebe als Notfall

Robert Pfallers kleiner Katalog der narzisstischen Weltdeutung und des Jammerns

Wenige haben die Begabung, sich in ihr eigenes Spiegelbild zu verlieben. Der Narziss von heute schaut sich ununterbrochen an, und es kommt keine Liebe auf. Um sich endgültig zu mögen, benötigt er noch dieses und dann jenes, sei es Materielles oder Geistiges wie Ansichten, Ansehen oder Einfälle. Es hört aber nie auf, er ist, was jede Art von Liebe betrifft, ein dauernder Notfall. In der Not bleibt Selbstbespiegelung sein Metier, seine Sucht.

Natürlich arbeitet er schwer an sich. »Narziss«, heißt es bei Ronald D. Laing, »verliebte sich in sein Bild, indem er es für einen anderen hielt.« Das ist überhaupt die fatale, ihm gemäße Täuschung. Wofür er sich auch begeistert, die Kunst, die Politik, es ist trotz aller Anstrengung immer nur er selbst gewesen, den er wirklich gesehen hat. Aber der Arme findet stets Kritiker, die ausgerechnet ihm den Spiegel vorhalten, und darin sieht er so gar nicht liebenswert aus, sondern manchmal sogar wie die Kulturschande in Person.

Auch darüber habe ich viel aus dem Buch gelernt: Robert Pfaller: Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft (Symptome der Gegenwartskultur; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2008; 334 S., 12,95 €). Pfaller stellt polemisch einen kleinen Katalog der narzisstischen Weltdeutung auf: »Ein Subjekt ist etwas Besseres als ein Objekt; das Angeeignete ist besser als das Entfremdete; das Authentische besser als das Kunstvolle; das Selbstgestaltete besser als das Vorgefundene; das Konstruierte besser als das Gegebene; das Immaterielle besser als das Materielle; die Freiheit besser als das Glück.« Vor allem entfaltet der Narzissmus sein schändliches Wirken, indem er das Eigene über alles Allgemeine stellt und es am Ende so aussehen lässt, dass das Eigene gut und gern als Allgemeines auftreten kann.

Die Freiheit, die der Narzissmus meint, ist paradox: Sie geriert sich in ihrem Begehren nach Gleichheit mit sich selbst als Freiheit von Macht; sie ist verknallt in die Ohnmacht. Die Welt ist ja schlecht, und alle, die ihr was entreißen wollen, machen sich schmutzig. Rein bleibt nur, wer sich die Welt vom Leibe hält. Es ist, wie gemacht für Zeiten wie diese, die Stimmung »selbstgefälliger Verzweiflung«. Man hat einen Knacks und geht von Talkshow zu Talkshow, um zufrieden zu berichten, dass man einen hat. Und, ach, man sieht, »wie kritische Vernunft zu einem Unternehmen der selbstmitleidigen Selbstbeschränkung geraten ist«.

Der Philosoph Pfaller zeigt, dass zu dieser postmodernen Ethik der Beschwerde und des Jammerns eine korrekte Vernunft passt, der alles Abweichende, alles »Heilige«, aller Glamour, aller Charme schmutzig vorkommt. Sie setzt nur auf das Vertraute. An der Sexualität interessiert sie nicht die Ekstase, sondern die Depression, an der Kriminalität nicht ihre bedeutungsvolle Vielseitigkeit, sondern, siehe CSI, die naturwissenschaftlich-geradlinige Ermittlung der Täter. Das alles macht die Welt ärmer, am Ende will man gar kein Narziss mehr sein.

Deutsche sind Europas Sorgenmeister

Umfrage in elf Staaten: Deutsche sind Europas Sorgenmeister

Von Florian Diekmann

Gute Wirtschaftslage, niedrige Arbeitslosigkeit, hohe Löhne – und doch sehen die Menschen nirgendwo mehr Probleme als in Deutschland. Das ist das Ergebnis einer europaweiten Umfrage. Am wenigsten Sorgen machen sich die krisengeschüttelten Iren.

http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/gfk-umfrage-in-elf-staaten-deutsche-sind-europas-sorgenmeister-a-909610.html

Nürnberg/Hamburg – Es scheint paradox. Die Arbeitslosigkeit ist im Dauertief, das Wachstum robust, selbst die Löhne steigen wieder spürbar – derzeit ist Deutschland der Neid seiner meist krisengeschüttelten Nachbarn sicher. Und doch fallen den Deutschen auf die Frage, welche Probleme in ihrem Land gerade dringend gelöst werden müssten, auf Anhieb mehr davon ein als allen anderen Europäern.

 

Das ist das Ergebnis einer Umfrage des GfK-Vereins, die SPIEGEL ONLINE exklusiv vorliegt. Der Verein ist Miteigentümer der Gesellschaft für Konsumforschung und betreibt Grundlagenforschung. Mehr als 13.000 Menschen in elf europäischen Ländern wurden in diesem Februar für die regelmäßig durchgeführte Umfrage «Challenges of Europe 2013» befragt. Ihnen wurden keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben, sie konnten also spontan auf die offene Frage nach den in ihrem Land dringendsten Problemen antworten.

Die Rangliste der Sorgen unter Deutschlands Bürgern führt die Arbeitslosigkeit an. Danach folgen Inflation, wirtschaftliche Stabilität, Bildungspolitik und Rente/Altersvorsorge.

Ganz im Gegensatz zu den Deutschen scheinen die Iren dem Monthy-Python-Motto zu folgen: Always look on the bright side of life. Denn wo die Deutschen im Durchschnitt spontan 2,5 dringende Probleme nennen, die angepackt werden müssen, nennen die Iren nur 1,2 – ausgerechnet die Bewohner jenes Landes, das besonders schwer von der Schulden- und Bankenkrise getroffen wurde, in dem sich die Arbeitslosigkeit verdrei- und die Staatsschuldenquote vervierfacht haben, fallen im europäischen Vergleich am wenigsten Sorgen ein. Gemeinsam übrigens mit den Schweden, bei denen die Sorglosigkeit angesichts einer erfreulichen Wirtschaftslage allerdings auch um einiges begründeter erscheint.

Statt mit Monthy Python halten es die Deutschen lieber mit Udo Lindenberg: «Denk’ an Krise und Inflation – sonst landest du später bei der Bahnhofsmission.» Doch obwohl die Deutschen Europas Sorgenmeister sind, hat sie die wirtschaftlich gute Lage in der Bundesrepublik verglichen mit früheren Jahren insgesamt doch weitaus sorgenfreier werden lassen. Und wenn sie Probleme ausnahmsweise als dringender einschätzen als früher, beweisen sie doch durchaus Sinn für die veränderte Realität in Deutschland.

Nur Russen machen sich mehr Sorgen um Inflation

So bleibt zwar die Arbeitslosigkeit die Sorge Nummer eins, aber mit 32 Prozent der Befragten bedrückt sie nun nicht einmal mehr jeden dritten Deutschen stark. Das sind so wenige wie noch nie seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Vor sieben Jahren sah das noch ganz anders aus. Im Jahr 2006 sagten 80 Prozent der Deutschen spontan, das Problem der Arbeitslosigkeit müsse dringend gelöst werden. (Weitere Entwicklungen im Zeitverlauf finden Sie in dieser Grafikstrecke.)

In den Krisenstaaten der Euro-Zone hingegen hält durchweg eine absolute Mehrheit die Arbeitslosigkeit für eines der dringendsten Probleme ihres Landes. Besonders ausgeprägt ist die Sorge in Spanien, wo sie 72 Prozent der Befragten nennen, auch in Frankreich ist der Anteil mit 69 Prozent kaum kleiner. In Irland wiederum, wo die Quote der Jobsuchenden sich in den vergangenen Jahren mehr als verdreifacht hat, nennen nur 20 Prozent die Arbeitslosigkeit als dringendes Thema. Auch wenn man jene 25 Prozent dazuzählt, die angeben, die Sicherung der Beschäftigten mache ihnen Sorgen, erscheinen die Iren trotz schwieriger Lage ziemlich unbeschwert.

Mit 29 Prozent Nennungen nahm die Inflation den zweiten Platz im deutschen Sorgen-Ranking ein. Das sind drei Prozentpunkte mehr als noch im vergangenen Jahr – ein Anstieg, der angesichts von dauerhaften Mickerzinsen und der lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nachvollziehbar ist. Nur die Russen machen sich mit 31 Prozent noch mehr Sorgen um die Entwicklung ihrer Kaufkraft. In Österreich hingegen, dessen Lage in der Euro-Krise der Deutschlands ziemlich genau entspricht, halten nur 13 Prozent die Inflation für ein dringendes Problem.

Französische Gelassenheit

Die Sorge der Deutschen um wirtschaftliche Stabilität ist hingegen deutlich kleiner geworden, auch wenn sie den dritten Platz im deutschen Sorgenranking belegt – nur noch 16 Prozent nannten sie, im Vorjahr waren es noch 24 Prozent, im Rezessionsjahr 2009 gar 36 Prozent.

Erstaunlich hingegen ist die Sorglosigkeit der Franzosen bei diesem Thema: Trotz des Verlusts des Triple-A-Ratings und der eindringlichen Mahnung etwa des IWF zu Reformen sehen nur 14 Prozent von ihnen die wirtschaftliche Stabilität ihres Landes in Gefahr. Und auch die Iren, die mitten in einem gewaltigen Strukturwandel stecken, sind mit 18 Prozent kaum mehr darum besorgt als die Deutschen.

Eher grotesk mutet es allerdings an, dass die Bewohner eines Landes wie Irland, dessen Staatverschuldung von etwa 25 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2007 auf zuletzt rund 120 Prozent emporschnellte, dies offenbar kaum als Problem sehen. Nur sechs Prozent der Iren fielen die Staatsfinanzen als eines der Probleme ein, die dringend zu lösen seien. Im Gegensatz dazu findet jeder zehnte Deutsche, dieses Thema solle mit Nachdruck angepackt werden – auch wenn Deutschland zur Zeit sogar Überschüsse erwirtschaftet.

Eine neue Sorge

Wie stark sich gesellschaftliche Veränderungen in den Sorgen der Deutschen niederschlagen, machen zwei bemerkenswerte Entwicklungen deutlich: Armut schien in Deutschland zumindest in der Wahrnehmung der Bürger lange gar nicht zu existieren – bis im Jahr 2005 Hartz IV eingeführt wurde. Damals taucht Armut zum ersten Mal im GfK-Sorgenranking auf, immerhin zwei Prozent der Befragten nannten sie. Inzwischen sorgt Armut 13 Prozent der Bundesbürger, das macht sie zum sechstdringendsten Problem des Landes.

Umgekehrt lief es bei Zuwanderung und Integration. Als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs jedes Jahr Hunderttausende Menschen in Deutschland Asyl beantragten, schnellte die Sorge darum in die Höhe – 1992 nannten sie 68 Prozent der Befragten. Dann wurde das Asylrecht eingeschränkt, der Flüchtlingsstrom ebbte ab, die Sorgen um die Integration ebenso. Heute fällt sie nur noch acht Prozent der Deutschen als Problem ein.

Nicht schlecht für ein Land, dem der «Economist» jüngst eine Zukunft als moderner Schmelztigel Europas vorhersagte.

Deutschland-Analyse des «Economist»: Vormacht ohne Mumm

Deutschland ist unangefochtene Vormacht in Europa – aber das Land will die Rolle bisher nicht annehmen. So sieht es der «Economist», das einflussreichste Wirtschaftsmagazin der Welt in einem Länderreport. Die Prognose der Briten ist überraschend optimistisch.

http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/economist-zeichnet-deutschland-als-europas-hegemon-wider-willen-a-905516.html

Schulvergleich: Von Strebern und Chaoten

Schulvergleich: Von Strebern und Chaoten

Bayerische Schüler können viel besser lesen und rechnen als Berliner Schüler. Warum ist das so? Eine Forschungsreise zu zwei Schulen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.

Von: 14.06.2013 – 11:26 UhrWas an der Münchner Isar-Schule die Ausnahme ist, gehört an der Berliner Spree-Schule* zum Alltag: Schulanfänger, die nicht bis zehn zählen können; Kinder geschiedener Eltern, denen im Ranzen irgendetwas fehlt, weil sie ständig zwischen Mutter und Vater pendeln; kleine Medien-Junkies, die am Montagmorgen wie auf Entzug in die erste Stunde kommen; Schüler, die ohne Pausenbrot zum Unterricht erscheinen.

Es ist nicht schwer, Unterschiede zwischen den beiden Schulen zu finden. Dabei hatten wir die Bildungsverwaltung in Berlin und München gebeten, uns jeweils eine «durchschnittliche Grundschule» zu nennen. Wir wollen herausfinden, warum die Schüler in einem Bundesland so viel besser lesen und rechnen können als in einem anderen. Und weil Extreme das Allgemeine besonders gut zeigen, suchen wir die Antwort an den beiden Polen der Bildungsrepublik: in Berlin und Bayern.

Am Geld liegt es nicht

«Schauen Sie hier.» In der Spree-Schule streicht Schulleiterin Petra Mende über die Fensterbank ihres Büros und hält einen schmutzig-schwarzen Finger hoch. «Der Putzdienst schafft das nur alle zwei Wochen.» Eigene Reinigungskräfte gibt es schon lange nicht mehr an ihrer Schule. Wie überall an Berliner Schulen hat Mende eine Fremdfirma mit dem Job beauftragt, die billigste am Markt. Nur ein paar Minuten hat die Kolonne zur Säuberung jedes Klassenraums. Mehr gibt Mendes Etat nicht her. Auch die Toiletten müssen deshalb manchmal einen Tag lang auf eine Reinigung warten.

Für die Schulleiterin symbolisiert das knappe Putzbudget den Wert der Bildung in Berlin: «Die Rahmenbedingungen für unsere Schulen sind schlecht.» Den Unterschied zu ihrem Pendant in München sieht man schon auf den ersten Blick. Während die Spree-Schule in einem verwinkelten Altbau untergebracht ist, arbeiten die Lehrer der Münchner Isar-Schule in einem lichten Neubau aus viel Holz und Glas. In jedem Klassenraum finden sich ein Computer, eine Leseecke samt Sofa und Regale voller Bücher und Lernhilfen. «Was die Ausstattung angeht, können wir nicht klagen», sagt Schulleiterin Martina Rudzio, die an einem modernen Schreibtisch in ihrem blitzsauberen Büro sitzt. An der Spree-Schule geht es karger zu. Hier müssen die Lehrer, wenn der Schuletat aufgebraucht ist, ihre Arbeitsmaterialien aus eigener Tasche bezahlen. So wie die Schüler für ihre Bücher bis zu 100 Euro selbst beisteuern müssen. Und Petra Mende muss ihr Büro mit dem stellvertretenden Schulleiter teilen.

Dabei gibt Berlin eigentlich sogar mehr Geld pro Grundschüler aus als Bayern: 300 Euro mehr sind es laut Haushaltsplan im Jahr. Nur müssen die Mittel auf dem Weg von der Schulbehörde zur Spree-Schule irgendwo verloren gehen. «Bei uns jedenfalls kommt das Geld nicht an», sagt Mende. Das Geld ist also nicht Schuld, dass bayerische Schulen immer weit über dem nationalen Leistungsschnitt liegen und Berliner Schulen deutlich darunter. Wer aber dann? Sind es die Lehrer, oder liegt es an den Schülern? Und hat der bayerische Erfolg vielleicht auch einen Preis – und Berlin Stärken, die keine Statistik zeigt? Schließlich kommen die Siegerschulen beim Deutschen Schulpreis – umgerechnet auf die Schülerzahl – dreimal so häufig aus Berlin wie aus Bayern.

Eigentlich sollte man meinen, dass diese Fragen längst geklärt sind. Seit dem Jahr 2000 vergleichen Forscher das Lernniveau in Deutschlands Schulen. Die Abhandlungen zu Pisa, Iglu und anderen Studien füllen ganze Regalmeter. Wir wissen über unser Schulsystem etwa, dass es ungerecht ist. Vor allem aber kennen wir die riesigen Leistungsdifferenzen zwischen den Bundesländern. So haben die Viertklässler in Bayern in der jüngsten Vergleichsuntersuchung in Mathematik 519 Punkte erzielt, die Schüler in Berlin nur 451. Das entspricht dem Lernfortschritt rund eines Schuljahres – oder dem, was Deutschland im internationalen Vergleich von der Türkei trennt. Gegen das Schulproblem sei jede verschobene Flughafeneröffnung unbedeutend, sagen Experten.

Nur eines kennen wir trotz aller Studien nicht: die Gründe für die gewaltigen Unterschiede. Warum liest der Süden der Republik besser als der Norden? Wieso sind Thüringen oder Sachsen-Anhalt auf den Ranglisten über die Jahre hinweg nach oben geklettert, während die drei Stadtstaaten im Keller verharren? «Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor», sagt der langjährige Leiter der Pisa-Studien, Manfred Prenzel.

Angesichts der öffentlichen Erregung, die die Leistungsvergleiche stets hervorrufen, muss diese Ignoranz verblüffen. Was noch verwunderlicher ist: Bislang haben die Bildungspolitiker nichts unternommen, ihre Blindheit zu kurieren. Sie reden zwar viel von Transparenz. In Wirklichkeit haben sie Angst vor der Wahrheit. Sie könnte ja lauten, dass an ihrer Politik etwas falsch ist. Deshalb hat die Kultusministerkonferenz bislang keine einzige Studie zur Ursachenerkundung auf den Weg gebracht. Sie hat sogar alle tiefer gehenden Analysen verhindert. Forscher, die mit Daten aus der Pisa-Studie arbeiten, müssen – unter Androhung einer Strafe von 10.000 Euro – versprechen, in ihrer Publikation kein Bundesland beim Namen zu nennen. Wer also Antworten auf die Frage nach den Unterschieden zwischen den Bundesländern sucht, muss sich selbst aufmachen, mit Schulleitern, Lehrern und Schülern reden und herausfinden, was typische Schulen unterscheidet.

Die Herkunft zählt – aber nicht die geografische

Emre, Simon, Thien, so heißen die Schüler an der Spree-Schule. José, Karl, Alexej heißen die Kinder an der Isar-Schule. Deutsche Großstadtschulen sind überall bunt. In München stammen sogar mehr Schüler aus Einwandererfamilien als in Berlin. Ihre Leistungen liegen zwar unter dem bayerischen Schnitt. Aber sie können fast so gut lesen und rechnen wie die Berliner Schüler aus deutschen Familien.

An der Migrantenquote kann es also nicht liegen, dass Berlin das ewige Kellerkind der Bildungsrepublik ist. Bildungsforscher bestätigen: Nicht der Geburtsort der Eltern bestimmt die Schulkarriere ihrer Kinder, sondern das Einkommen und der Bildungsstand. Und hier klafft zwischen München und Berlin ein Abgrund.

Das zeigt sich nicht nur an der Zahl der Eltern, die bei einer Klassenfahrt um Beihilfe bitten, oder an dem Prozentsatz der Kinder aus geschiedenen Familien, sondern auch an der Zahl der verhaltensauffälligen Schüler, die nicht still sitzen können, die andere schlagen, die jede Stunde ihr eigenes Programm brauchen. «So ein Schüler macht so viel Arbeit wie sieben andere», sagt eine Berliner Lehrerin. Zwar gibt es an der Spree-Schule einen Sozialpädagogen und eine Sonderpädagogin mit halber Stelle für schwere Fälle. Aber deren Stunden reichen vorn und hinten nicht aus.

Die Lehrer an der Isar-Schule kennen ebenso verhaltensauffällige Schüler, wie es auch in Bayern «Problemschulen» gibt. In München liegen sie in Hochhaussiedlungen wie Am Hasenbergl oder Neuperlach. Doch um mehr als ein Dutzend Standorte muss sich die Schulverwaltung der Stadt nicht kümmern. In Berlin dagegen – im Wedding, in Kreuzberg oder Neukölln – zählt man mehr als hundert Brennpunktschulen. Hier gibt es Klassen, in denen alle (!) Schüler aus Hartz-IV-Familien stammen. An der Spree-Schule liegt die Quote bei einem Drittel und damit im Berliner Mittel.

Es ist also die Armutsquote, die Berlins Schulergebnisse drückt. Aber muss der Abstand zu Bayern deshalb so riesig sein? Nein, meint Hans Anand Pant. Er leitet das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das die Ländervergleiche erstellt. Pant hat die Ergebnisse der letzten Erhebung «adjustiert», also die Herkunft der Schüler mit statistischen Kniffen herausgerechnet. Es geschah Überraschendes: Bayern sackte im Länderranking ab, Berlin stieg aber kaum auf, der Abstand blieb enorm. Vergleicht man zudem nur die Gruppe der Schüler aus gehobenem Elternhaus, schneidet Berlin ebenso schlecht ab. Die Schulmisere dort muss also noch andere Gründe haben.

Am Morgen hat sich Frau Mix aus der 3c an der Isar-Schule krankgemeldet. Sofort hat die Schulsekretärin die «Mobile Reserve» informiert. In München stehen 200 ausgebildete Pädagogen bereit, um bei Krankheit einzuspringen. Fast jeder bayerische Lehrer wird in seiner Dienstzeit für ein, zwei Jahre zu dieser Lehrerfeuerwehr abgeordnet. «Wenn es gut läuft, habe ich am selben Tag Ersatz», sagt Schulleiterin Rudzio. Es läuft oft gut. Deshalb verzichtet die Münchner Schulverwaltung sogar auf eine Krankheitsstatistik.

In Berlin kennt man die Zahlen genau. Jeden Tag meldet sich einer von zehn Lehrern krank; mehr als in jedem anderen Bundesland. An der Spree-Schule fehlen zwei Kollegen seit Monaten. Schulleiterin Petra Mende hat für solche Fälle zwar ein Vertretungsbudget. Es hilft ihr aber selten weiter. «Es gibt kaum qualifizierte Kollegen auf dem Markt», sagt sie. Einmal hat sie aus Not eine Journalistin eingestellt. Die Frau sei engagiert gewesen, fachlich sei der Unterricht doch «etwas schwach» ausgefallen.

Noch mehr Sorgen bereiten der Berliner Direktorin die Kollegen, die bald in den Ruhestand gehen. Denn Nachwuchs ist dünn gesät; viele junge Lehrer verlassen die Hauptstadt nach ihrer Ausbildung, gehen nach Hamburg oder Brandenburg. Dort lockt der Beamtenstatus. In Berlin bleiben sie Angestellte, ohne Jobgarantie und mit geringeren Bezügen. Dabei braucht gerade Berlin junge, gut ausgebildete Lehrer. An der Spree-Schule wie überall in der Stadt unterrichten viele Lehrer Mathematik oder Deutsch, die das Fach nie studiert haben. Ihr Wissen stammt noch aus der eigenen Schulzeit. Ein solcher «fachfremder» Unterricht benachteilige besonders schwächere Schüler, sagt der Bildungsforscher Pant. In Bayern dagegen müssen alle Grundschulpädagogen in den Kernfächern zumindest Basiskenntnisse erwerben.

Von Gehorsam und Widerstand

Lehrer können dazulernen. An der Spree-Schule besuchten viele ihrer Kollegen Fortbildungen, sagt Petra Mende. Zwingen tut sie allerdings niemanden. An der Isar-Schule dagegen besteht strikte Fortbildungspflicht. Exakt zwölf Lerntage à fünf Stunden zu sechzig Minuten muss ein bayerischer Lehrer in vier Jahren nachweisen. Und wenn es bald ein neues Curriculum für die Schulen gibt, wird das ganze Kollegium zum Büffeln abgeordnet.

In Berlin wäre das undenkbar. «Mit Anordnungen erreichen Sie hier nichts», sagt Jürgen Zöllner, ehemals Schulsenator der Hauptstadt. «Wenn Sie es trotzdem versuchen, erhöhen Sie nur die Krankenrate.» Zöllner kam als erfahrener Minister aus Rheinland-Pfalz nach Berlin. Die dortige Schulkultur mit ihrer Antihaltung gegenüber der Politik und ihrer Skepsis gegenüber Leistung traf ihn «wie ein Schock». Der Sozialdemokrat hat folgende Theorie: Jahrzehntelang sei Berlin ein Magnet für Leute gewesen, die mit dem westdeutschen Establishment (und der Bundeswehr) nichts zu tun haben wollten. Viele von ihnen hätten ihre Heimat in den Schulen gefunden. Ihre Einstellung präge viele Kollegien bis heute, sagt Zöllner: «Bei einem Schultest wollen die Bayern die Besten sein. Die Berliner wollen beweisen, dass der Test nichts taugt.»

Tatsächlich gehört das Motzen in Berliner Kollegien zum guten Ton. Die Lokalpresse trägt den Jammerton eins zu eins in die Öffentlichkeit. Auch im Direktorenzimmer dauert es kaum eine halbe Stunde, dann hat einen Petra Mende auf den Stand gebracht, was in der Berliner Schulpolitik alles falsch laufe. Ihre Kollegin aus München, ganz bayerische Beamtin, verliert kein böses Wort über die Obrigkeiten. Sie hätte auch weniger zu klagen.

Die Nebenwirkungen von Schulreformen

Montagmorgen, erste Stunde bei den «Tigern» der Spree-Schule. Die Klasse teilt sich in zwei Gruppen. Während die einen Schüler mit Würfeln den Zehnerraum erkunden, erproben die anderen die Geheimnisse der Multiplikation. Die Tiger sind eine JüL-Klasse. Beim «jahrgangsübergreifenden Lernen» bestreiten die erste und zweite Klasse den Unterricht gemeinsam. Die Jüngeren lernen von den Älteren, die Starken ziehen die Schwachen mit. Die Idee ist pädagogisch bestechend, aber schwer umzusetzen. Die Schüler müssen zu einem Minimum an Selbstständigkeit fähig sein, die Lehrer mit der Vielfalt umgehen können. Dem Einwand, dass beides in Berlin kaum gegeben sei, begegnete der Senat bei der Einführung der Reform 2005 mit dem Hinweis auf zusätzliche Lehrer und umfassende Fortbildungen.

Die Misere
Das Lerngefälle zwischen den Schulen verschiedener Bundesländer ist eklatant. In Mathematik etwa liegen die Leistungen von Schülern aus Bayern und Berlin ähnlich weit auseinander wie die von Schülern aus Deutschland und der Türkei. Weil die Kultusminister zwar Wettbewerb predigen, selbst aber Transparenz scheuen, gibt es bislang keine einzige Studie zu den tiefer liegenden Ursachen dieser Leistungsunterschiede.

Die Recherche
Unser Autor hat daher selbst Ursachenforschung betrieben. Er hat sich wochenlang durch Gesetze und Sozialerhebungen gearbeitet, mit Experten gesprochen, Stundenpläne und Ausbildungsvorschriften verglichen. Vor allem aber hat er den Alltag zweier normaler Schulen in München und Berlin erlebt. Da sie anonym bleiben möchten, heißen sie hier Isar-Schule und Spree-Schule.

Statt neuer Stellen gab es dann nur Extrastunden, die Fortbildungen besuchte wie immer nur ein Teil der Lehrer. Mittlerweile hat der Senat den Zwang zum JüL aufgehoben. Ein Drittel der Schulen wird zum alten Modell zurückkehren. So gilt JüL in Berlin als Paradebeispiel einer missratenen Schulreform: übers Knie gebrochen, finanziell nicht unterfüttert, von den Lehrern kaum mitgetragen. Berlin kann einige dieser Reformruinen vorweisen, die zwangsweise Einschulung mit fünfeinhalb Jahren etwa oder die Abschaffung der Vorschulen.

Schulreformen gleichen Operationen ohne Betäubung. Oft schwächen sie den Lehrkörper und lenken vom Kerngeschäft ab, dem Unterricht. Bevor irgendetwas besser wird, wird manches erst einmal schlechter. Und nicht selten bleibt alles beim Alten, nur Unsicherheit und Unruhe sind größer denn je. Auch Bayern erprobt das jahrgangsübergreifende Lernen, aber nur behutsam an wenigen Standorten. Großreformen bleiben den Grundschulen im Freistaat erspart. Während sich Schulleiterin Mende in Berlin «wie auf einer Dauerbaustelle» fühlt – ständig gilt es, irgendetwas abzureißen, instand zu setzen, umzubauen –, sieht Martina Rudzio ihre Aufgabe darin, die «bewährten Strukturen» zu sichern. Und Strukturen sind in bayerischen Schulen so heilig wie das Kreuz in jedem Klassenraum.

Freiheit und Ordnung

Am Morgen war Rudzio zu «Beratungsbesuchen» unterwegs. Einmal im Jahr schaut sich die Münchner Schulleiterin den Unterricht ihrer Lehrer an, bei «Schwachleistern» auch öfter. Rudzio lässt sich die Hefte und die Wochenpläne der Schüler zeigen, kontrolliert Noten und Hausaufgaben. Dass ihre – unangemeldeten – Besuche nicht beliebt sind, weiß die Schulleiterin. Aber sie sagt: «Ich bin nicht an der Schule, um Freunde zu finden, sondern um die Qualität zu garantieren.» Auch die Schulrätin aus dem Schulamt wird bei jedem Pädagogen alle vier Jahre im Unterricht vorstellig. Wenn sie sich an der Isar-Schule anmeldet, herrscht unter den Lehrern eine Stimmung wie bei Gymnasiasten vor der Abiturprüfung.

An bayerischen Schulen wird nichts dem Zufall überlassen. Zwar produziert die Schulbürokratie auch in anderen Bundesländern viele Vorschriften. Der Unterschied ist: «In Bayern werden sie strikt eingehalten», sagt Yvonne Sass, die aus Bremen nach München kam. Die Lehrerin breitet zwei Ordner und einen Stapel Klarsichtmappen auf ihrem Pult aus: den «Stoffverteilungsplan» für das Jahr, die «Wochenpläne» für die stundengenaue Unterrichtsbeschreibung der Woche, die «Vordrucke für die Schülerbeobachtung».

Letztere hat monatlich zu erfolgen. Der Wochenplan muss spätestens montags um 7.45 Uhr zur möglichen Einsicht der Schulleitung vorliegen. Ist eine Unterrichtseinheit beendet, bezeugt Sass dies mit einem Häkchen. Nur den bayerischen «Belehrungskalender» nimmt die Zugereiste nicht so ernst. Er erinnert daran, die Schüler im Januar vor Knallkörpern und im Oktober vor dem «Unwesen der Wilderei» zu warnen.

Die Spree-Pädagogen kennen solche strikten Gebote nicht – außer sie haben vor 1989 im Osten der Stadt unterrichtet. Den Lehrplan verstehen Berliner Lehrer eher als groben Rahmen. Den Schulrat kennen einige nicht einmal beim Namen. Und wenn Petra Mende in den Unterricht kommen möchte, dann bitte nur mit Voranmeldung. Die Rektorin sagt: «Das Klima im Kollegium ist mir wichtig. Ich will kein Dompteur sein.» Dass sie überhaupt ihre Kollegen behelligt, ist nicht selbstverständlich. In Berlin gibt es Lehrer, deren Klasse seit dem Referendariat niemand besucht hat.

Die Unterschiede zeigen sich auch im Unterricht. Der reine Frontalunterricht ist zwar in Berlin wie in München passé, hier wie dort arbeiten die Schüler häufig in Gruppen oder folgen ihrem eigenen Wochenplan. In München freilich gehorchen die Unterrichtsschritte einer strafferen Choreografie, und die Schüler wissen rascher, was zu tun ist. Selbst wie sie nach vorne treten – die rechte Reihe zuerst, dann die Mitte dann die linke Reihe –, scheinen die Schüler x-mal geübt zu haben. Auch der Geräuschpegel ist niedriger.

Yvonne Sass schätzt mittlerweile die bayerischen Regeln und Rituale. «Die Strukturen helfen gerade den schwachen Schülern.» Auch die Schulforschung hat im «Klassenmanagement» einen wichtigen Baustein für erfolgreiches Unterrichten identifiziert.

Für Berlins schwierige Schüler wären feste Strukturen besonders wichtig, ebenso wie die Lehrer viel stärker auf Einhaltung der Mindeststandards des Lehrplans achten müssten. Die Münchner Schullenker dagegen könnten den Lehrern ihren pädagogischen Eigensinn lassen und den Schülern mehr Selbstständigkeit erlauben. Hohe Erwartungen bringen hohe Leistungen. Das ist empirisch belegt. Doch der Blick auf Noten und Leistungsvergleiche enthüllt nicht die ganze Wahrheit über das, was Schüler an einer Schule lernen.

Im chaotischen Berliner Schulklima wächst offenbar Neues und Einzigartiges, was bei Pisa nicht getestet wird – wie etwa die Zahl der Preisträger beim Deutschen Schulpreis zeigt. Das merkt man auch im Unterricht: Zweitklässler, die einen Vortrag über Eichhörnchen halten; Schüler, die ihr Lieblingsbuch vorstellen oder ihren Stadtteil mithilfe des Internets erkunden – all das gab es bei den Besuchen an der Spree-Schule zu sehen, an der Isar-Schule nicht. In Bayern scheint man für so etwas nur selten Zeit zu haben. Hier zählt jede Minute auf dem Weg zum Grundschulabitur.

Der Preis des bayerischen Schulerfolgs

«Kindsein ist kein Kinderspiel». In München hat die Elternversammlung zum Informationsabend geladen. Die Aula ist gefüllt. Die Psychologin Anette Frankenberger hat den Vortrag schon unzählige Male gehalten. Beliebter ist nur noch das Referat «Kinder im Stress». Im Grunde geht es stets um dasselbe: den Ausnahmezustand, der in Münchner Familien ausbricht, wenn der Übergang auf die weiterführende Schule ansteht. Wer aufs Gymnasium will, muss die Grundschule mit mindestens 2,33 abschließen. Ab Ende der dritten Klasse richtet sich alle Aufmerksamkeit darauf.

An der Isar-Schule ist das die Zeit, wenn Kinder auf der Klassenfahrt nachts plötzlich wieder einnässen; wenn Schülern der Ballettunterricht oder das Fußballtraining gestrichen wird und Eltern sich freinehmen, um für die nächste Klassenarbeit zu pauken. 22 «Proben», also Klassenarbeiten, schreibt das Kultusministerium für die vierte Jahrgangsstufe vor. «Wir haben praktisch neun Monate durchgelernt», berichtet eine Mutter an der Isar-Schule.

In München falle der «Übergangswahn» besonders hysterisch aus, sagt die Psychologin Frankenberger. Hier ist die Akademikerrate höher als anderswo in Bayern und das Bestreben der Eltern größer, den eigenen Kindern die gleiche Bildungskarriere zu ebnen. Deshalb sind die Lehrer auch angehalten, ihr «Schriftwesen» in der vierten Klasse besonders zu pflegen. Ein Vater, dessen Sohn den Schnitt um 0,01 verpasst hat, könnte die Schule verklagen und behaupten, es läge daran, dass die Lehrerin zu wenig geübt hätte.

Zwar werden auch in München so gut wie keine Prozesse über Schulnoten geführt. Doch alle Lehrer an der Isar-Schule haben Angst davor. Und wenn Schulleiterin Rudzio die (verpflichtende) Teamarbeit der Lehrer oder die Transparenz der Notengebung lobt, dann auch, um zu sagen: Unsere Übergangszeugnisse sind gerichtsfest.

Spricht man mit den Eltern der Isar-Schule, reden diese ständig über den Leistungsdruck. Im Gespräch mit den Spree-Eltern fällt das Wort «Druck» kein einziges Mal. Das liegt nicht nur daran, dass die Grundschule in Berlin sechs Jahre dauert. Hier haben – wie in den meisten anderen Bundesländern – die Eltern das letzte Wort über die weiterführende Schule ihres Kindes und nicht die Lehrer.

Die sechs Jahre in der Grundschule wirken sich übrigens auf die Lernfreude der Schüler aus. In Bayern sinkt sie Studien zufolge in der vierten Klasse, in Berlin erst zwei Jahre später. Andererseits verbessert der Leistungsdruck das bayerische Abschneiden im innerdeutschen Leistungsvergleich. Die Tests werden Ende der vierten Klasse erhoben. Exakt dann, wenn der Übergangsstress in Bayern auf seinem Höhepunkt angelangt ist.

Was können die Städte voneinander lernen?

Bei komplexen Gebrechen sprechen Ärzte von einem Syndrom. In diesem Sinn kann man von einem Berliner Schulsyndrom reden. Der Patient laboriert an vielen Leiden, die sich gegenseitig verstärken. Mit einigen, wie der Herkunft seiner Schüler, wird Berlin leben müssen. Andere lassen sich sehr wohl verändern, etwa die hektische Bildungspolitik oder die Laisser-faire-Haltung der Pädagogen. Der Generationswechsel in den Berliner Kollegien bietet dafür eine Chance. Verlassen aber weiterhin die besten jungen Lehrer die Stadt, ist die Chance auf lange Zeit vertan.

Aber Bayern hat keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Zwar sorgt die funktionierende bayerische Schulverwaltung dafür, dass es hier weniger schlechte Schulen und weniger schlechte Lehrer gibt als in Berlin. Allerdings verleidet der Leistungsdruck den Schülern den Spaß am Lernen. Zudem gerät leicht aus dem Blick, dass nur in einem freiheitlichen Klima Fantasie und Kreativität blühen.

Natürlich kann der Vergleich zweier Schulen nur bedingt Evidenz beanspruchen. Doch der Versuch zeigt, wonach Schulforscher eigentlich Ausschau halten müssten – wenn sie denn dürften. Vielleicht ändert sich ja etwas. Bei Hamburgs Schulsenator Ties Rabe zumindest hat sich eine Einsicht durchgesetzt: «Wir müssen stärker nach den Ursachen der Länderunterschiede forschen.» Das sagte Rabe nach dem letzten Leistungsvergleich. Noch etwas versprach er: Die Länder wollen mehr voneinander lernen. Für einen Schulpolitiker keine schlechte Idee.

Fußnote
Der Autor ist befangen. Er hat zwei Kinder an einer Berliner Grundschule. Oft wünscht er sich mehr bayerische Verhältnisse in Berliner Klassen- und Lehrerzimmern. Tauschen will er aber nicht. Er möchte mit seinem achtjährigen Sohn keine Gespräche darüber führen, ob dieser auf dem Gymnasium das Abitur anstreben soll oder eher für die Haupt- oder Realschule geeignet ist.

* Die Namen der Schulen, Lehrer und Schulleiter sind verändert

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Europa Die große Unruhe

Europa Die große Unruhe

21.05.2013 ·  In vielen Ländern Europas ist das Tal der Tränen noch nicht durchschritten. Es wird unruhig bleiben, solange die Lasten der Anpassung nicht bewältigt sind.

Von Klaus-Dieter Frankenberger

Mit einem schönen, schlichten Satz erinnerten maßgebliche Europäer vor gut sechs Jahren in Berlin an die Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957: „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Dankbarkeit für den Lauf der Geschichte schwang darin ebenso mit wie das Versprechen einer gedeihlichen gemeinsamen Zukunft. 2007 – das war vor dem Fall von Lehman Brothers, vor der europäischen Staatsschuldenkrise, vor den Rettungspaketen und der Konsolidierungspolitik. 2007 war eine andere Zeit.Zu unserem Glück vereint? Das Stimmungsbild im Europa der Gegenwart ist trübe und düster: In vielen EU-Ländern und vor allem in den Euro-Krisenstaaten hat der Verdruss ob der gemeinsamen Währung fast englische Ausmaße erreicht. Immer ungünstiger fällt das Urteil über die Europäische Union aus, die wirtschaftliche Integration wird als wenig vorteilhaft eingeschätzt. Eine amerikanische Umfrage aus jüngerer Zeit kommt zu dem alarmierenden Schluss, dass das „Hauptopfer“ der Eurokrise das europäische Einigungswerk sei. So als ob binnen weniger Jahre aus Glück Unglück geworden ist.

Es ist in der Tat bedenklich, wenn und dass die politische Legitimität der EU dahinschwindet. Doch da „Europa“ ganz offensichtlich von einer Wohlstandsverheißung lebt, kommt die Aversion nicht aus heiterem Himmel. Die Eurozone kämpft jetzt schon eineinhalb Jahre gegen die Rezession. Von Griechenland bis Portugal ist die Arbeitslosigkeit hoch, besonders die der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Den Politikern dieser Länder fällt es immer schwerer, die Staatshaushalte zu konsolidieren und die Verkrustungen ihrer Volkswirtschaften aufzubrechen. Aber trotz aller Widerstände führt daran kein Weg vorbei – was übrigens nicht unbedingt alle Politiker und Interessengruppen, aber viele Bürger in den Krisenländern auch so sehen.

Mag auch die Lage der Eurozone, was die Stabilität der gemeinsamen Währung anbelangt, weniger dramatisch sein als noch vor einem Jahr, so ist die Währungsunion nicht über den Berg. Der allgemeine Unmut ist, siehe oben, groß, und die Spannungen, welche die Krise freigesetzt oder verschärft hat, sind nach wie vor hoch. Das bezieht sich vor allem auf den Gegensatz zwischen den an Stabilität interessierten Ländern im Norden der Eurozone sowie der EU im Allgemeinen und den überschuldeten Krisenländern im Süden, die ihren Partnern einen Mangel an Solidarität vorwerfen.

Gegenläufig ist das Meinungsklima in Deutschland

Deutschland bekommt diesen Vorwurf besonders oft zu hören. Wenn „Brüsseler Spardiktate“ politisch-publizistisch attackiert werden, sind in Wahrheit Berlin und die Bundeskanzlerin gemeint. Weil sie Leistungen an Gegenleistungen knüpfen, die für die Zukunft der Währungsunion unerlässlich sind? Auf manchmal schon maliziöse Weise werden Berlin hegemoniale Ambitionen unterstellt – ganz so, als seien es die Deutschen gewesen, welche die Regierungen der Krisenländer dazu veranlasst hätten, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften systematisch zu schwächen. Wenn Deutschland ein Vorwurf zu machen ist, dann der, dass unter Rot-Grün der Stabilitätspakt gebrochen wurde. Nicht kritikwürdig aber ist, dass Berlin und Frankfurt darauf hinweisen, dass Währungsunion und die Logik des Verschuldens und der Sozialstaatsexpansion einander ausschließen.

Auf der anderen Seite ist das Offensichtliche nicht zu bestreiten: In den vergangenen Jahren ist die politische Bedeutung Deutschlands weiter gewachsen. Dafür spricht allein die Wirtschaft mit globaler Ausrichtung. Die starke Stellung Deutschlands als der mit Abstand stärksten Wirtschaft der Eurozone und also auch der Bundesregierung ist freilich auch ein Spiegelbild der Verfassung anderer europäischer Gründungsnationen. Frankreich durchlebt eine Phase politischer und wirtschaftlichen Schwäche sondergleichen, Italien wird von einer tiefen Krise erschüttert. Hinzu kommt die große Euroskepsis des Nichteurolandes Großbritannien, die sich in faktischer Orientierungslosigkeit und Selbstmarginalisierung äußert.

Gegenläufig zu der Stimmung in anderen Ländern ist das Meinungsklima in Deutschland: Nach großem Missmut zu Beginn der Krise, als die ersten Rettungspakete geschnürt wurden, sind die Deutschen weniger erregt. Sie wollen nicht „mehr Europa“, sind aber mit EU und Währungsunion alles in allem ganz zufrieden. Die europapolitische Rolle, die Bundestag und Bundesverfassungsgericht heutzutage spielen, beruhigt sie – jedenfalls die beachtliche Mehrheit der Bürger, die auch am Stil der Kanzlerin wenig auszusetzen hat. Von den meisten Partnerländern lässt sich das nicht sagen.

Die europäische Politik ist insgesamt von einer großen Unruhe erfasst. In vielen Ländern ist das Tal der Tränen noch nicht durchschritten. Es wird unruhig bleiben, solange die Lasten der Anpassung nicht bewältigt sind. Das ist der Preis, der bezahlt werden muss, um den Bestand der Währungsunion zu sichern – und um in dieser ultrakompetitiven Welt des frühen 21. Jahrhunderts nicht unterzugehen. Gefährlich würde es dann, wenn die europäischen und die nationalen Institutionen (vollends) in Misskredit gerieten.

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Welche Verbindungen gibt es zwischen Wirtschaft und Wissenschaft? Ein neues Internetportal will das herausfinden.

Eine neue Internetseite will Verbindungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft öffentlich machen. Auf Hochschulwatch.de sollen Professoren, Dozenten und Studenten über  Beispiele berichten, die ihnen fragwürdig erscheinen. Nutzer können eigene Texte schreiben und Dokumente hochladen.

Initiiert wurde die Seite von der Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland, dem Freien Zusammenschluss von Studentinnenschaften (FZS) und der Tageszeitung taz. Die taz prüft Einträge, bevor sie öffentlich gemacht werden. «Wir haben die Sorge, dass (…) Wirtschaftsinteressen immer mehr Einfluss nehmen auf das, was an den Hochschulen im Bereich von Lehre und Forschung stattfindet», sagte die Vorsitzende von Transparency International Deutschland, Edda Müller, bei der Vorstellung des Projekts.

Müller kritisiert, Kooperationsverträge zwischen Unternehmen und Universitäten müssten nicht veröffentlicht werden. Daher sei unklar, ob die Hochschulen den Unternehmen für ihr Geld Gegenleistungen einräumten. Sie befürchtet, Unternehmen könnten die Auswahl von Professoren oder die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen beeinflussen. «Der Zweck heiligt nicht die Mittel, Universitäten sind keine Werbeflächen», sagt sie.

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Unternehmen entdeckten Hochschulen zunehmend als Markt, sagt auch Student Erik Marquardt, Vorstand des FZS. «Man kommt sozusagen gar nicht mehr zur Mensa, ohne auch mindestens ein Angebot für ein neues Sparkonto oder einen Handyvertrag zu bekommen.»

Als Beispiel für fragwürdigen Wirtschaftseinfluss nennt Hochschulwatch eine Stiftungsprofessur für Energiewirtschaft der Universität Köln, die von den Energiekonzernen EnBW, Vattenfall, RWE und E.on bezahlt werde. Die Hochschule reagiert gelassen auf den Start der Internetseite: «Wir finden gut, was Transparenz schafft. Auch wenn die Schlüsse des Portals andere sind als unsere», sagte ein Sprecher Universität Köln auf Anfrage von ZEIT ONLINE. Rechtliche Folgen befürchte die Universität nicht. Weiter erwähnt Hochschulwatch das Institut für Internet und Gesellschaft der Humboldt-Universität Berlin, das von Google mitfinanziert wird. Eine Sprecherin der Universität teilte mit: «Wissenschaftliche Kooperationsprojekte mit privaten Unternehmen und Verbänden unterliegen immer der Maßgabe des Präsidiums, damit die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre und die Autonomie der Universität gewahrt wird.»

Auf der Webseite sind über 400 Hochschulen aufgelistet. Das Projekt ist auf ein Jahr begrenzt. Transparency International Deutschland will die Hinweise im Anschluss auswerten.

Hinweis: Der Text wurde im Nachhinein um ein Statement der Humboldt-Universität Berlin ergänzt. Die Redaktion.

http://www.lobbycontrol.de/2013/01/hochschulwatch-neues-portal-will-fragwurdige-verbindungen-von-wirtschaft-und-wissenschaft-aufdecken/

LobbyControl Hochschulwatch:

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Wirtschaft und Wissenschaft aufdecken

Seit 2008 gibt es eine Kooperation zwischen der Universität Köln und dem Pharmakonzern Bayer. Wie diese Zusammenarbeit im Detail aussieht, ist jedoch unbekannt, da der Kooperationsvertrag geheim ist. Die Frage nach möglicher Einflussnahme durch Bayer kann somit nicht beantwortet werden. Eine Klage zur Offenlegung des Vertrags wurde Ende 2012 in erster Instanz abgelehnt. Der Kläger, der Verein Coordination gegen Bayer-Gefahren, hat gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt.

Kooperationsverträge wie diese sind bei weitem kein Einzelfall. Drittmittel aus der Privatwirtschaft haben in den letzten Jahren für Universitäten an Bedeutung gewonnen. Das neue Internetportal Hochschulwatch hat sich daher zum Ziel gesetzt, Beispiele für fragwürdige Einflussnahme an Universitäten und Fachhochschulen zu sammeln. So soll ein Nachschlagewerk über die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft entstehen. Für jede Hochschule gibt es einen Wiki-Eintrag. Die Leserinnen und Leser sind aufgefordert, ihr Wissen über Kooperationen dem Portal hinzuzufügen.

Das von Taz, dem freien Zusammenschluss von StudentInnenschaften (FZS) und Transparency International (TI) gegründete Portal reagiert damit auf die zunehmende Ökonomisierung der Bildung. Besonders die Kooperationen zwischen Hochschulen und Unternehmen sind dabei sehr intransparent. Veröffentlichungspflichten gibt es nicht. Dabei haben Lobbyisten Schulen und Hochschulen längst als Handlungsfeld für ihre erweiterte Lobbyarbeit entdeckt. Forschung und Lehre werden zunehmend mit dem Ziel beeinflusst, möglichst tiefgreifend und somit nachhaltig einzelne Sichtweisen in der Gesellschaft zu verankern. Mehr Transparenz ist daher dringend nötig. Wir sind gespannt, was für Fälle fragwürdiger Einflussnahme Hochschulwatch in diesem Jahr ans Licht holen wird.

Weitere Informationen: www.hochschulwatch.de

transparency.de :
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