In der Mitte des Lebens Jetzt kommt es darauf an

Wer das Alter gesund erleben will, muss mit fünfzig Geist und Körper fordern
von Martin Spiewak

http://www.zeit.de/2014/10/alter-kognitive-entwicklung-gedaechtnis/komplettansicht

Jedes Mal passiert es wieder. Der Professor kommt ins Seminar und blickt in die Runde seiner Studenten. Er kennt die Gesichter, er sieht sie jede Woche. Die Studentin vorne links zum Beispiel, sie meldet sich bei Fragen fast immer als Erste. Und der Brillenträger hinten rechts spielt unter dem Tisch oft mit seinem Handy. Nur eines weiß der Professor nicht: wie all diese jungen Leute heißen. Am Ende des Semesters kennt er nicht einmal ein Drittel der Kursteilnehmer mit Namen.

Früher wäre dem Professor so etwas nicht passiert. Früher war der Professor aber auch nicht fast fünfzig. «Es hat mich schon erschreckt», sagt Martin Korte, «dass mir etwas Probleme bereitet, das ich vorher spielend konnte.» Dabei kam die Erkenntnis für Korte nicht überraschend. Der Biologieprofessor, geboren 1964, pflegt als Spezialgebiet die Gedächtnisforschung. Er weiß: «Die Fünfzigermarke ist eine Schwelle, an der unsere Merkfähigkeit deutlich nachlässt.»

Mit zunehmenden Alter wird das Gehirn weniger stark durchblutet und mit Sauerstoff versorgt. Die Zahl der Zellen im Hirn schrumpft, die Weitergabe der Impulse verlangsamt sich. Dieser Abbauprozess beeinträchtigt besonders das Kurzzeitgedächtnis. Im Schnitt können 25-Jährige sich noch sieben Zahlen leicht merken, 55-Jährige bloß noch fünf.

Ältere Menschen lassen sich leichter ablenken

Ein Grund dafür ist die nachlassende Fähigkeit, sich zu konzentrieren und Ablenkungen abzuwehren. So fällt es jüngeren Versuchsteilnehmern bei Experimenten relativ leicht, am Computer auch dann Aufgaben zu lösen, wenn die Bildschirmfarben wechseln oder Geräusche ertönen. Ihr Hirn filtert die Störsignale einfach heraus. Ältere Probanden dagegen lassen sich eher aus dem Konzept bringen, machen deshalb mehr Fehler oder benötigen mehr Zeit für die Lösung.

Gleichzeitig sinkt im Alter die Fähigkeit, gespeichertes Wissen abzurufen. Das liege nicht an der Größe des Speichers, meint Gedächtnisforscher Korte, «der ist so gut wie unbegrenzt». Um Neues zu lernen, setzen die Jahre dem Menschen im Prinzip keine Grenze. Selbst Siebzigjährige können noch eine neue Sprache erlernen. Das Problem beim Erinnern dürfte eher sein, die spezifische Information – ein Gesicht, einen Buchtitel, ein bestimmtes Wort – aus der Menge der Erinnerungen abzurufen. Es ist wie das Auffinden eines Buchs in einer Bibliothek. Je größer der Bestand, desto mühsamer die Suche.

Das menschliche Gehirn wird oft mit einem Computer verglichen. Tatsächlich verliert der menschliche Denkapparat mit wachsenden Jahren an Rechengeschwindigkeit. Eines jedoch hat er einem alternden Computer voraus: Das Gehirn gleicht Verluste dadurch aus, dass es sein «Programm» permanent verändert. Es kann seine Leistungsfähigkeit stellenweise sogar steigern.

In einer der umfangreichsten Studien über das kognitive Altern beobachten amerikanische Wissenschaftler um die Psychologin Sherry L. Willis seit über fünfzig Jahren mehr als 6.000 Teilnehmer. Alle sieben Jahre untersuchen sie deren geistige Fitness. Das Ergebnis der Seattle Longitudinal Study überraschte selbst die Forscher: Nur in zwei von sechs Testkategorien – bei der Reaktionsschnelligkeit und der Rechenfähigkeit – schnitten die älteren Jahrgänge schlechter ab. Ansonsten nahmen die Fähigkeiten mit dem Alter zu und hatten ihren Höhepunkt zwischen 55 und 60 Jahren. Die reiferen Probanden fanden beispielsweise mehr Synonyme für bestimmte Begriffe und taten sich leichter dabei, Informationen zu deuten und Zusammenhänge zu erkennen.

Mit dem Alter kommen neue Stärken

In der Lebensmitte entwickelt das Gehirn offenbar auch neue Stärken. Es vermag besser Informationen zu verknüpfen und Wichtiges vom Unwichtigen zu trennen. Der Psychologe Arthur F. Kramer von der Universität Illinois konnte das an Fluglotsen zeigen. Jüngere Lotsen reagierten in Routinesituationen schneller. Die Älteren dagegen waren im Vorteil, wenn Unvorhergesehenes passierte oder die Informationen vieldeutiger wurden.

Ihre «bessere Performanz in komplexen Situationen» verdanken ältere Fluglotsen wahrscheinlich ihrer langjährigen Expertise, schreiben die Wissenschaftler im Journal of Experimental Psychology. Ähnliche Experimente gibt es mit Sekretärinnen. Während jüngere Bürodamen schneller tippen, ahnen ältere Kolleginnen aus vorherigen Diktiersitzungen, welcher Text als Nächstes folgt, und können so die fehlende Schreibgeschwindigkeit kompensieren.

Erfahrung kann man messen. Es fällt aber schwer, sie in einer konkreten Situation zu erklären. Sie ist einfach da und liefert Antwort auf eine komplexe Frage mitunter im Bruchteil einer Sekunde. Das nennt man Bauchgefühl. Mit Gefühlen hat das aber wenig zu tun. Intuition ist nichts anderes als Erfahrungswissen, welches das Gehirn in unzähligen ähnlichen Situationen erworben und als Musterlösungen gespeichert hat. Deshalb stellen ältere Ärzte mitunter schon nach kurzer Untersuchung die Diagnose. Erfahrene Personalchefs spüren bereits in den ersten Minuten eines Vorstellungsgesprächs, ob der richtige Kandidat vor ihnen steht. Und der alte Hase im Journalismus «wittert» eine Geschichte, wo der Neuling nur einen Haufen Fakten sieht.

Erfahrung – Intelligenzforscher sprechen von kristalliner Intelligenz – könnte der Grund sein, warum es das mittlere Alter überhaupt gibt. Evolutionsbiologisch gesehen, wirken die vielen Jahre, die dem Menschen zwischen dem Ende der Zeugungsphase und dem Tod bleiben, erst einmal überflüssig. Eine Erklärung könnte sein, dass Frauen wie Männer das Überleben der Gengemeinschaft nicht nur durch Fortpflanzung, sondern auch durch ihre Erfahrung zu sichern hatten. Sei es, dass sie die Jüngeren bei der Aufzucht der Brut unterstützten, sei es, dass sie beim Aufspüren oder Erlegen von Essbarem halfen.

«Die erfahrenen Männer und Frauen nahmen im komplexen System der Nahrungsbeschaffung wahrscheinlich eine Schlüsselrolle ein», schreibt der Biologe David Bainbridge in seiner Naturgeschichte des mittleren Alters. Tiere, die ähnlich alt werden wie der Mensch, zeigen ähnliche Muster. Bei den Elefanten sind es die erfahrenen Tiere, welche die Herde in Zeiten der Trockenheit zu den wenig bekannten Wasserstellen führen.

Lesen und Lernen als Alzheimer-Prävention

Dabei sind die gelebten Jahre allein nicht von Vorteil. Die individuellen Unterschiede bei der geistigen Leistungsfähigkeit im mittleren Alter sind riesig. Nur wer Erfahrungen macht, kann einmal ein erfahrener Alter sein. So überrascht es nicht, dass sich Bildung als der beste Indikator für mentale Fitness im mittleren Alter erweist. Das zeigt das Midus-Projekt (Midlife in the United States), die größte Studie über diese Lebensphase weltweit. Im Durchschnitt seien Menschen mit einem Collegabschluss nicht nur körperlich, sondern auch geistig so gesund wie zehn Jahre Jüngere ohne Hochschulabschluss, schreibt Midus-Forscherin Margie E. Lachman.

Die Midus-Studie förderte eine weitere Erkenntnis zutage: Auch jenseits der fünfzig zahlt es sich aus, das Denken zu trainieren, und zwar gerade bei Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss. Wenn sie ihr Gehirn regelmäßig beschäftigen – durch Lesen, Schreiben oder gezieltes Lernen –, machen sie die größten Sprünge. Gleichzeitig schützen sie sich vor Krankheiten wie Alzheimer. Noch weiß man wenig darüber, wann die Krankheit beginnt. Fest steht jedoch: Wer im mittleren Alter geistig mobil ist, fällt seltener der Demenzerkrankung anheim.

Tatsächlich scheint um das fünfzigste Lebensjahr herum ein Umschlagpunkt zu liegen. Wer mit fünfzig beginnt, regelmäßig Sport zu treiben, ist, statistisch gesehen, für die Gebrechen des Alters ebenso gut gerüstet wie jemand, der schon immer durchs Leben joggte. Wer dagegen erst mit sechzig die Bewegung entdeckt, kann die Folgen der immobilen Jahre nicht mehr ausgleichen. «Unser Leben im Alter wird in den mittleren Jahren entschieden», sagt der Biologe Martin Korte. Die Ratschläge, die er in seinem Buch Jung im Kopf formuliert, sind simpel: Ernährt euch gesund, bewegt euch regelmäßig, und geht unter Menschen. Letzteres vor allem: Kaum eine andere Aktivität fordert – durch Reden und Zuhören sowie das permanente Beobachten von sich selbst und anderen – so viele Hirnregionen gleichzeitig wie ein normales Gespräch. Freundschaften sind das beste Hirnjogging.

Das Kurzzeitgedächtnis schwächelt, die Konzentration lässt nach. Aber das Gehirn zeigt auch neue Stärken: Es verknüpft sehr schnell Informationen und trennt Wichtiges von Unwichtigem.

Denken ist die Simulation gemachter Erfahrungen»

Auf welche Weise verändert unser Erleben das Gehirn? Ein Gespräch mit dem Ulmer Kognitionspsychologen Markus Kiefer von 

http://www.zeit.de/2012/19/PS-Erfahrung-Interview

https://www.museodelprado.es/typo3temp/pics/3bffe4b423.jpg

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